Für ein Lied und hundert Lieder
entlassen.
Die Genossen haben ihn alle in seiner Zelle besucht und unterstützten seinen heldenhaften Triumph.
»Die Verköstigung hier drin«, sagte er, »zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel! Hundert Gramm pro Mahlzeit, manchmal nicht einmal das, kein Gemüse, nur ungeschälter Reis. Nach zwei, drei Tagen haben die Zähne angefangen zu bluten und sind locker geworden. Morgens um kurz nach sechs, es ist noch stockdunkel, kommen die Rotfelle von der Eingreiftruppe ins Zimmer, sie jagen dich aus dem Bett, setzen dich auf die kleine Steinbank im Innenhof, und da hockst du dann den ganzen Tag, man darf sich nicht einmal bücken. Ob es regnet, ob es schneit, du hockst da, man gefriert regelrecht zu einem Eiszapfen. Ich habe eine Beschwerde nach der anderen geschrieben, ich habe immer wieder die ›Verhaltensregeln‹ auswendig gelernt, das Einzige, was diese Rotfelle das ganze Jahr über zu tun haben, ist, sich zu überlegen, wie sie einen quälen können. Scheiße, da habe ich mir was eingebrockt.«
Ich fragte, was es mit dem Brief auf sich habe.
»Ein ganz normaler Grußbrief«, sagte er, »eigentlich wollte ich, dass meine Frau ihn ins Ausland schickt.«
»Dein Fall ist von großer Bedeutung«, tröstete ich ihn, »im Ausland müssen sie erfahren, dass du hier bist.«
»Normalerweise sollte es so sein«, seufzte er, »ich bin der 89er mit der höchsten Strafe in ganz Sichuan.«
Im Sommer 2000 wurde der alte Lei vorzeitig entlassen und besuchte mit Frau und Kindern Freunde in Chengdu. Zu dieser Zeit waren Li Bifeng, Xu Wanping und She Wanbao schon zum zweiten Mal in den Kahn eingefahren, und zwar schon eine ganze Weile. She Wanbao war 1998 in die Gründung der Demokratischen Partei Chinas verwickelt und wurde deswegen zu einer hohen Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt (Xu Wenli, der Führer der Demokratischen Partei, war von seiner Position her wichtiger und bekam 13 Jahre). Daran kann man sehen, dass die regionalen Justizorgane von Sichuan in ihrer revolutionären Radikalität sogar noch das Zentralkomitee übertrafen, links hieß die Parole, links oder nichts. Unser Glückspilz Yang Wei hatte sich bei dem Durcheinander eines Festnahmeversuchs durch das Amt für Öffentliche Sicherheit unter eine Reisegruppe gemischt und war nach Thailand geflohen. In dem festen Glauben, er könne da ungehindert zur amerikanischen Botschaft stolzieren und um politisches Asyl bitten, wurde er dort zu seiner Überraschung zum Teufel gejagt, strandete in einem Tempel und leistete dort einem Mönch über ein Jahr Gesellschaft. Trotz der Aktivitäten und der Bürgschaften von Liu Qing, des Vorsitzenden von Human Rights in China in New York, konnte man mit so einem unbedeutenden Aktivisten wie Yang Wei nicht die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregen. Er konnte von Glück sagen, dass man ihn nicht nach China zurückschickte. Nach Angaben der Polizei war es der Regierung auch zu viel, Verhandlungen für seine Auslieferung anzustrengen.
Ich habe den alten Lei und seine Familie in ein Restaurant ausgeführt und habe selbst nur ein wenig Bier getrunken: »Die Jahre sind im Nu vorbei gewesen, ich gebe jetzt ein Begrüßungsessen für dich, mein lieber Lei.« Anschließend habe ich auch seiner Frau zugeprostet: »Wenn zu Hause alles in Ordnung ist, das ist das größte Glück! Und es ist nicht einfach, liebe Freundin.«
Einen nach dem anderen sind wir unsere Leidensgenossen durchgegangen, haben darüber gesprochen, was aus ihnen geworden ist. Ich sagte: »Außer dem Knast und der Flucht scheint es nichts zu geben. Hou Duoshu ist vor einem halben Jahr in Chengdu vorbeigekommen, aber er hat mich nicht angetroffen. Ich habe gehört, er hat geheiratet und verkauft jetzt Artikel zur Sexualhygiene. Als Pu Yong letztes Jahr rauskam, war er auch bei Hou Duoshu, auch oben in Beijing, er hat auch mit allen möglichen Aktivisten der Demokratiebewegung im Ausland Kontakt aufgenommen, er ist jetzt von Grund auf solide, seine Familie bezahlt ihm ein Studium der chinesischen Medizin. Einmal habe ich ihn am Bahnhof Liu Ping getroffen, er lebt unter einer Truppe von Pennern, als ich ihn begrüßte, hat er sich aus dem Staub gemacht.«
»Ich habe vor, mir eine Arbeit zu suchen«, sagte der alte Lei, »ich werde mir höchstens ein paar Tage gönnen, um richtig zu mir zu kommen, bis die Polente nicht mehr so auf mich aufpasst, dann gehe ich als Lehrer irgendwohin, wo man keinen ›Personalausweis‹ braucht, ich habe Beziehungen, über
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