Für ein Lied und hundert Lieder
Bekannte. Ich bin noch ein paar Jahre meiner bürgerlichen Rechte beraubt, aber ich kann nicht untätig zu Hause herumsitzen und warten, meine Frau quält sich schon über zehn Jahre herum, meine Tochter ist groß, ich muss etwas tun, um ihnen ein wenig die Last von den Schultern zu nehmen.«
»Hast du Kontakt mit dem Ausland aufgenommen?«
»Anscheinend haben ausländische Fernsehstationen von meiner Entlassung berichtet.«
»Mein lieber Lei, es ist schwer zu sagen, was kommen wird, im Augenblick sind wir in alle Himmelsrichtungen zerstreut, keiner kann etwas von dem anderen erwarten.«
»Ich war darauf vorbereitet.«
»Erst musst du mal einen Weg finden zu überleben, allein und in der Kälte weiterzukämpfen, im Häuserkampf sozusagen.«
»Am allerliebsten wäre ich ein Pflasterstein«, sagte der alte Lei, »der 4. Juni hat unser aller Leben vollkommen verändert.«
Es tröstete mich, dass der alte Lei nicht deprimiert war, er war ein um das andere Mal von der Realität ausgeknockt worden und hatte sich jedes Mal wieder aufgerappelt. Ich erinnere mich an den Sommer 1995, als Yang Wei mit ihm über eine Geheimschrift in Verbindung trat, die er in einem Buch gelernt hatte, und ihm die entsprechenden Nachrichten über die Welt da draußen mitteilte – Resultat: Im Licht der neuen Hoffnung entwarf der alte Lei den »Offenen Brief an die Human Rights in China, an die amerikanische Regierung, an Amnesty International und die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen« – eine verzweifelte Anklageschrift, die von Lei Fengyun, Pu Yong, Hou Doushu und Xu Wanping unterschrieben war.
Yang Wei hatte mir dieses sieben Seiten lange Dokument nach Hause geschickt, ich hatte es rasch überflogen, es zerriss mir das Herz. Es folgte der große Warenschock. Die Brutalität des Lebens führte dazu, dass der chinesische Staatsbürger nicht mehr für sich selbst sorgen konnte, die verblassenden Blutspuren gerieten auch bei den Opfern in den Gefängnissen in Vergessenheit. Ich beschloss auf der Stelle, dieses Schriftstück eigenhändig nach Beijing und dort über verschiedene Kanäle an die Öffentlichkeit zu bringen, damit die Weltöffentlichkeit, wenn sie ihr Augenmerk auf die politische Elite richtete, auch etwas von den Tränen und den Hilferufen der einfachen Gefangenen erfuhr.
Ich verabredete mit Yang Wei, am nächsten Tag aufzubrechen, Yang Wei reservierte die Zugtickets, ich wartete zu Hause; kurz nach zwei stürmte ein gutes Dutzend Polizeibeamte aus drei Polizeiautos meine Wohnung.
Das Zimmer war voller Menschen, unser alte Hund Yuzui bellte wie verrückt, und das Drama von vor fünf Jahren, wo sie »Dieb und Diebesgut in Händen hatten« wiederholte sich noch einmal. Nachdem wir die ganze Nacht abwechselnd verhört worden waren, wurde mir verkündet, ich würde für 20 Tage unter Hausarrest gestellt. Ich konnte von Glück sagen, dass Song Yu nicht nach Chengdu gekommen war. Tausend chinesische Meilen weiter wurden der alte Lei und vier andere in schwere Ketten gelegt und in winzige Einzelzellen gesteckt, in die kein Tageslicht fiel. Der alte Lei saß in diesem »Gefängnis im Gefängnis« ein paar Monate, es war, als habe man ihn lebendig begraben, und ich hatte keine Ahnung, wie er das überlebt hat.
Der Grund dafür, dass alles aufgeflogen war, war ganz ähnlich wie bei dem »Vorfall mit dem englischen Brief«: Der Übermittler war ein Denunziant!
»Dem alten Himmelsvater sei Dank!«, sagte der alte Lei, als er entlassen war, »dass ihr beiden da nicht mit hineingezogen worden seid!«
Bin ich im Gefängnis oder bin ich draußen? Seit Anfang ’92 schreibe ich nun, das sind schon acht Jahre. Seit acht Jahren lebe ich unter der Dunstglocke dieses Buches. Ich bin nicht frei, denn ich kann den wirklichen und den unwirklichen Schatten nicht entfliehen. Der Rädelsführer der Beamten, die damals meine Wohnung durchsucht haben, ein Mann namens Cao Jian, ist an einer schlimmen Krankheit verreckt, er war in Qinghai Soldat gewesen, hatte ein missliches Leben geführt, auch seine offizielle Karriere kam nicht richtig in die Gänge, deshalb hat er neben seinen offiziellen Pflichten her immer gerne private Ermittlungen angestellt, meinem Flötenspiel gelauscht, und ab und zu ist ihm auch einmal ein sentimentaler Seufzer entschlüpft. Ich bin ihm zu Dank verpflichtet, denn als ich zu Hause auf meine Strafe wartete, hat eine recht lange Zeit keiner der alten Freunde meinem Flötenspiel zugehört, es sei
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