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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Mädchen hatten ihren Spaß, stellten sich wieder um ihren Ofen und fächelten dem Feuer Luft zu. Aus dem dichten Rauch schob sich schließlich eine Flamme, was die Mädchen noch mehr beschäftigte. Ich staunte nicht schlecht. Die Anführerin gabelte plötzlich mit einem Ast einen schwarz verkohlten Schatz aus dem Feuer und fragte aus der Ferne: »Na, du mieser Vogel, was denkst du, was das ist?«
    »Ich bin kurzsichtig, ich kann das nicht erkennen.«
    »Das bist du!«
    Die Mädchen tanzten vor Freude und balgen sich, wer mit dem toten Vogel Fußball spielen durfte.
    »Ich wäre gern so ein Ball und würde den Kindern als Spielzeug dienen«, dachte ich nicht ohne Wehmut. Dann nahm ich Papier und Stift heraus und schrieb an meine Frau und meine Tochter. Ein Menschenleben, das durcheinandergekommen ist, bekommt man nicht mehr zu fassen. Was man zu fassen bekommt, das ist nur so ein Stift , der einem nicht gehorcht.
    »So viele Kinder«, in den Augen von Huang Lian und noch älteren Gefangenen war ich da nicht selbst noch ein Kind? Ich war vermutlich noch nicht einmal in dem Alter, in dem man darauf versessen ist, der nächsten Generation Geschichten zu erzählen.
     
     
    Wie aus heiterem Himmel schlug ein Blitz bei mir ein, ich warf den Stift weg, sprang vom Bett und hetzte hinaus. Als ich draußen war, ging ich durch den Korridor, über die Treppe und kam auf den Sportplatz. Im Untersuchungsgefängnis konnte ich nur einen flachen, vom Betongitter ausgeschnittenen Himmel sehen, doch jetzt wurde mein Himmel immer größer, immer tiefer, fast hätte ich von diesem geräumigen Spiegel aus das gesamte Gefängnis sehen können. Ich streckte die Zunge heraus und schmeckte die trockene Luft, schmeckte den feinen Fleischgeschmack der Freiheit. Ich hätte gern aus vollem Hals geschrien, wie ein großer Schauspieler mitten auf der Bühne steht und schreit, aber ich musste mich beherrschen.
    Ich fing an zu trainieren, im Untersuchungsgefängnis hatte ich nur fortgesetzt vor dem elektrischen Eisengatter auf der Stelle zu laufen. Wenn schönes Wetter war, zählte ich beim Laufen die Vierecke, die die Sonne auf die Mauer warf, diese Vierecke waren für mich die Bahnhofsschilder von Beijing, Kanton, Chengdu oder Haikou; an regnerischen Tagen konnte ich nur mit geschlossenen Augen das Tröpfeln auf dem Vordach zählen. Diesmal war es besser, ich konnte mich selbst um sechs Uhr in der Früh aus dem Bett zwingen, mich in die Wäscherei schleichen, das Wasser, das wie ein Bergbach herausstürzte, aufdrehen und mich von dem Wasservorhang wie von einer gebündelten Peitsche oder einem Geschoss von vorne treffen lassen. Nackt, wie wir waren, waren wir im tiefen Winter rot und blau gefroren, ich sprang in meinem Gebirgsbach herum, ich war ein Affe und wehrte mich mit den gellenden Schreien meines Unterbewusstseins gegen das Pfeifen in beiden Ohren.
    Als meine Kaltwasserdusche beendet war, wechselte ich fürs Joggen die Schuhe, später bin ich einfach mit nackten Füßen gelaufen. Ich lief meine Runden auf dem Sportplatz im Hof, ganz gleich, ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter war, ob es stürmte oder schneite, die anderen Gefangenen konnten einen verrückten Kerl mit nacktem Oberkörper und nur in Unterhosen sehen, wie er besessen im Kreis herumlief. Ich versuchte, mich damit selbst zu erschöpfen, versuchte, mit der Misshandlung meines Körpers den Aufruhr in mir zu lindern. Ich war so viele Jahre eingesperrt, meine Seele, meine Natur rannte unentwegt, rannte wie besessen! Die Sterne am Himmel waren nichts anderes als die Fußspuren, die ich mit meinem Gerenne im All hinterlassen hatte!
    Ich lief platschend durch den Regen, bis ich selbst zu einem Betonwerker geworden war, von oben bis unten vollgespritzt, ich bekam es nicht mit, wenn ich mit den Fersen in Glas trat, ich vermischte es mit Blut und lief, mein Leben war nichts wert, ich habe mich nie infiziert. Am Ende war mir Schneegestöber willkommen. Auch wenn ich schwer erkältet war, stellte ich mich unter das eiskalte Wasser, ich war vollkommen daneben, und wenn die Krankheit mich umhaute, ich vierzig Fieber hatte, trat ich im Traum auf die Mauer und bekam einen Krampf, das Eisengestell meines Bettes bebte und schepperte. Als das Fieber zurückging, hatte ich Spermatorrhoe, die anderen nahmen mich auf den Arm deswegen: »Der Konterrevolution wichst nicht, aber wenn es ihm kommt, dann ist es wie ein Erdrutsch, das ist für den gar nichts.«
    Einmal habe ich nach meiner

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