Für ein Lied und hundert Lieder
Natur
Geständnis, das kein Rad, keine Taktik erobern kann
nicht zu verurteilender Verbrecher
Ach, Wasser
halb durchsichtiger Tanz
frei entfaltete, überfließende Gestalt
Königliches Messer
wie Frauen Männer überfluten
lässt es uns rosten
zu nichts werden
Nichts
Fruchtwasser, das meine Tochter quält
aus den Eingeweiden des Universums träuft?
zur frei geschichteten Stunde des Anfangs
Auf der knarrenden Eisentür geronnene Tränen
Rostflecken
sehn aus wie das Gesicht des längst beerdigten Großvaters
wenn der Käfig in das Flussbett sinkt
werden dann Kinder aufsteigen
in Reihen, auf dem Kopf leuchtendes Fischkraut? [66]
Mein Töchterchen
in dem Flusslehm, den du kaust
sind da die Schreie deines Vaters?
1. Juli 1991
Für ein Lied und hundert Lieder
Wegen eines einzigen Liedes
verrotten meine Ohren
Wegen eines einzigen Liedes
befiehlt der Wärter mit dem Elektroknüppel
ich soll hundert singen
Ein Schatten
stiehlt sich aus der Zelle
unzuverlässige Geliebte
wie ein Hase in die Mauer gehuscht
An deren Fuß mein kahler Schädel, bösartige Geschwulst
die Tränen eines ganzen Himmels regnen mir in die Augen
Die Zunge schwenkt die weiße Fahne
die Ohren klingen
vom traurigen Sabbern des Speichels
nach Frittiertem, Fisch, Geflügel
die Sonne sät Knoblauch ins Jadeblau
stinkt aus dem Maul, dass mir schlecht wird
Sing weiter
sing weiter
Erbarmen
erbarmen
mach mich zum Dreck
den du aus dem Ohr kratzt
nachdenklich auf der Hand wiegst
ich schwöre, ich würde dir guttun
Eine vibrierende Lust
wie nur nach der Ejakulation
Das Ohrenschmalz heult in goldenem Schneesturm
– Schau, die Hose, ich ziehe sie aus
mach dir das Hündchen
schau, van Gogh, in meiner Seele kauert
ein rothaariges Gespenst, der Türsteher der Hölle
sein Ohr blutet
Ich will in deinen Zähnen faulen
deine Nerven sollen anschwellen, verdammt
ich will zusehn, wie deine linke Wange
dick wird wie der Bauch einer Schwangeren
wie mich der Zahnarzt mit der Zange
aus deinem edlen Mund
Ziehen muss
Dann singe ich für dich
für immer für dich
ein Spucknapf ist die Welt, schön und groß
ein Spucknapf ist die Welt, bodenlos
1. Dezember 1990
Fleisch
Endlich Fleisch
es ist wie ein Treffen mit einer launischen Freundin
vorher warten wir, stellen Vermutungen an
die kleine Hand, die aus dem Magen, zerrt den Bart weiß
Endlich das ersehnte, das Fleisch
das geliebte, unvergleichlich zarte
Kohl mit bestem gebratenem Fleisch
in dem verdammten Gemüse leuchtend
wie ein Brillantring
Lass mich deine sensiblen Stellen küssen, Fleisch, und dann
dich erlesen, zur Seite legen
nach dem Essen
ein wundersamer Nachmittag ohne Schweißausbruch
Steig herab zu uns, Fleisch
steig herab zu diesen zwei Dutzend gierenden Hagestolzen
Winzige Fleischkörner
rote Lippen, groß wie Saubohnen
winzige Nippel
alles, was klein ist und winzig
rufst du wach
Du bist ein Bonbon
alle haben dich im Mund
Ölfädchen fallen über die Zungenwurzel
hinab in die Speiseröhre
ein Nachgeschmack langsamer als ein Rondo
wie ein altes Mütterchen, das mit welkem Mund ein Bonbon lutscht
und dem die vielsagende Süße
das Leben in frühere Zeiten massiert
Versunken wie ein Mönch
vergisst sie die Zeit, faltet das
Bonbonpapier in eine Grippemittelschachtel
in bunten Vorstellungen ahme ich sie nach
mache Gewinn
und mein Mund ist welker als der des Mütterchens welk ist
Ich habe drei Stunden darauf verwandt
sechs Fleischkörner zu lutschen und
ein Flöckchen Schweinemilch
Bevor die Schweinemilch hinuntergluckste
musste ich die Zähne bewegen
die Wangen zogen aus den Tiefen der Seele ein Zittern
unwillkürlich stieg ein »Aah« in einem auf
Der Penis in seinem kalten Verlies war für Sekunden heiß
Hundert Gefühle trafen sich in ihm, aber was konnte er sagen?
8. Mai 1991
Eisentraum
Diesmal zieht sich das endlos mit den Todeskandidaten
ich lese ein paar Seiten, die Zeichen
ziehen um wie Ameisen
reihenweise ziehen sie in meine Stirn
doch das größere Ameisennest ist am Himmel
wer den Kopf hebt, kann spüren
wie der Wind über das Gesicht krabbelt
Selbst die Sterne nehmen Schlaftabletten
und sind nicht klar. Ich stehe auf
der Wachsoldat über mir lässt einen fahren
ein großer Haufen der Pennbrüder
entleert sich einer nach dem anderen
sie kauen den Bodenbelag, die Haut der Wand klein
ich kann mich nicht klein machen
ich muss über Hosenställe weg, einen nach dem anderen
neben die
Weitere Kostenlose Bücher