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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Natur
    Geständnis, das kein Rad, keine Taktik erobern kann
    nicht zu verurteilender Verbrecher
    Ach, Wasser
    halb durchsichtiger Tanz
    frei entfaltete, überfließende Gestalt
    Königliches Messer
    wie Frauen Männer überfluten
    lässt es uns rosten
    zu nichts werden
    Nichts
    Fruchtwasser, das meine Tochter quält
    aus den Eingeweiden des Universums träuft?
    zur frei geschichteten Stunde des Anfangs
    Auf der knarrenden Eisentür geronnene Tränen
    Rostflecken
    sehn aus wie das Gesicht des längst beerdigten Großvaters
    wenn der Käfig in das Flussbett sinkt
    werden dann Kinder aufsteigen
    in Reihen, auf dem Kopf leuchtendes Fischkraut? [66]
    Mein Töchterchen
    in dem Flusslehm, den du kaust
    sind da die Schreie deines Vaters?
    1. Juli 1991

Für ein Lied und hundert Lieder
    Wegen eines einzigen Liedes
    verrotten meine Ohren
    Wegen eines einzigen Liedes
    befiehlt der Wärter mit dem Elektroknüppel
    ich soll hundert singen
    Ein Schatten
    stiehlt sich aus der Zelle
    unzuverlässige Geliebte
    wie ein Hase in die Mauer gehuscht
    An deren Fuß mein kahler Schädel, bösartige Geschwulst
    die Tränen eines ganzen Himmels regnen mir in die Augen
    Die Zunge schwenkt die weiße Fahne
    die Ohren klingen
    vom traurigen Sabbern des Speichels
    nach Frittiertem, Fisch, Geflügel
    die Sonne sät Knoblauch ins Jadeblau
    stinkt aus dem Maul, dass mir schlecht wird
    Sing weiter
    sing weiter
    Erbarmen
    erbarmen
    mach mich zum Dreck
    den du aus dem Ohr kratzt
    nachdenklich auf der Hand wiegst
    ich schwöre, ich würde dir guttun
    Eine vibrierende Lust
    wie nur nach der Ejakulation
    Das Ohrenschmalz heult in goldenem Schneesturm
    – Schau, die Hose, ich ziehe sie aus
    mach dir das Hündchen
    schau, van Gogh, in meiner Seele kauert
    ein rothaariges Gespenst, der Türsteher der Hölle
    sein Ohr blutet
    Ich will in deinen Zähnen faulen
    deine Nerven sollen anschwellen, verdammt
    ich will zusehn, wie deine linke Wange
    dick wird wie der Bauch einer Schwangeren
    wie mich der Zahnarzt mit der Zange
    aus deinem edlen Mund
    Ziehen muss
    Dann singe ich für dich
    für immer für dich
    ein Spucknapf ist die Welt, schön und groß
    ein Spucknapf ist die Welt, bodenlos
    1. Dezember 1990

Fleisch
    Endlich Fleisch
    es ist wie ein Treffen mit einer launischen Freundin
    vorher warten wir, stellen Vermutungen an
    die kleine Hand, die aus dem Magen, zerrt den Bart weiß
    Endlich das ersehnte, das Fleisch
    das geliebte, unvergleichlich zarte
    Kohl mit bestem gebratenem Fleisch
    in dem verdammten Gemüse leuchtend
    wie ein Brillantring
    Lass mich deine sensiblen Stellen küssen, Fleisch, und dann
    dich erlesen, zur Seite legen
    nach dem Essen
    ein wundersamer Nachmittag ohne Schweißausbruch
    Steig herab zu uns, Fleisch
    steig herab zu diesen zwei Dutzend gierenden Hagestolzen
    Winzige Fleischkörner
    rote Lippen, groß wie Saubohnen
    winzige Nippel
    alles, was klein ist und winzig
    rufst du wach
    Du bist ein Bonbon
    alle haben dich im Mund
    Ölfädchen fallen über die Zungenwurzel
    hinab in die Speiseröhre
    ein Nachgeschmack langsamer als ein Rondo
    wie ein altes Mütterchen, das mit welkem Mund ein Bonbon lutscht
    und dem die vielsagende Süße
    das Leben in frühere Zeiten massiert
    Versunken wie ein Mönch
    vergisst sie die Zeit, faltet das
    Bonbonpapier in eine Grippemittelschachtel
    in bunten Vorstellungen ahme ich sie nach
    mache Gewinn
    und mein Mund ist welker als der des Mütterchens welk ist
    Ich habe drei Stunden darauf verwandt
    sechs Fleischkörner zu lutschen und
    ein Flöckchen Schweinemilch
    Bevor die Schweinemilch hinuntergluckste
    musste ich die Zähne bewegen
    die Wangen zogen aus den Tiefen der Seele ein Zittern
    unwillkürlich stieg ein »Aah« in einem auf
    Der Penis in seinem kalten Verlies war für Sekunden heiß
    Hundert Gefühle trafen sich in ihm, aber was konnte er sagen?
    8. Mai 1991

Eisentraum
    Diesmal zieht sich das endlos mit den Todeskandidaten
    ich lese ein paar Seiten, die Zeichen
    ziehen um wie Ameisen
    reihenweise ziehen sie in meine Stirn
    doch das größere Ameisennest ist am Himmel
    wer den Kopf hebt, kann spüren
    wie der Wind über das Gesicht krabbelt
    Selbst die Sterne nehmen Schlaftabletten
    und sind nicht klar. Ich stehe auf
    der Wachsoldat über mir lässt einen fahren
    ein großer Haufen der Pennbrüder
    entleert sich einer nach dem anderen
    sie kauen den Bodenbelag, die Haut der Wand klein
    ich kann mich nicht klein machen
    ich muss über Hosenställe weg, einen nach dem anderen
    neben die

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