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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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unseren Köpfen sprechen wir über den Tod
    unter den ewigen Neonröhren sprechen wir über den Tod
    ob wir auf den Knien dahingehen oder im Stehen
    ob die Kugel das Herz durchschlägt
    oder den Hinterkopf
    ob der Henker ein guter Schütze ist
    wohin die Soße spritzt
    ob der Seele, wenn sie aus der Höhle fährt
    Zeit bleibt für ein Lachen
    ob die Beine wie Masten nach oben stehen
    wenn der Arsch kopfüber in die Grube fährt
    Das Rasseln der Ketten zerfließt im Geplätscher des Totenflusses
    Wenn am Vorabend deiner Erschießung
    der Gerichtsarzt dir das halbe Blut abzapft
    wirst du dich fühlen, als ob du schwebst
    dein Puls wird langsam wie ein Federballspiel im All
    Gebell, größer als der Saturn
    fällt über dich her
    Worauf wartest du noch
    genieß das gute Gefühl
    was du der Welt zu sagen hattest, hast du gesagt
    die Welt sollte Todgeweihten etwas mitgeben
    so etwas wie Gott, den taubstummen Drecksack
    vergeblich wächst einer Zeit ihre Zunge
    Blutleckerin
    nur Mundentsprungene sind ohne Gefühl
    nur Leibgeborene wie wir
    kennen den Schmerz
    und noch der Übelste nennt eine »Mutter«
    Der Tod ist ein weißer Schein
    ein endloser Tunnel
    ein ach so romantischer Zug, ein Kugeln
    ejakulierender Penis
    untröstlich, wenn er nicht trifft
    Weich wie Baumwolle
    deine Hände werden weich wie Baumwolle
    sie können nichts mehr halten
    deinen letzten Batzen Kot drückst du hinaus Richtung Sonnenabort
    Der Anus hat gesprochen
    er ist noch Jungfrau
    ihm hat es der alte Himmelsvater noch nicht besorgt
    15. Juli 1990

Irgendein Abend
    An diesem Tag wurde die Stimme des Wachhabenden auf einmal sanft
    als streiche ein tiefes Seufzen um alte Gassen
    der Junge war fort, war ein Erdhaufen in der Ferne
    die Mutter eilte ihm nach, zu spät
    am Himmel erschienen Elektrozäune
    der zum Tode Verurteilte neben mir trieb augenblicklich dorthin
    der Wachhabende rief noch einmal
    noch sanfter
    die Nostalgie
    erstickte uns alle in Tränen
    der Todeskandidat wuchs in der Antwort
    wie ein klingelndes Geschwür
    wurde er aus der vollgestopften Zelle
    gegraben
    Unsere Köpfe waren leer
    Der Kopf von Todeskandidaten
    heißt es, ist auch leer
    er hat sich nicht einmal umgedreht zum Abschied
    oder gesungen
    wie der Revolutionär im Roman »Roter Fels«
    er konnte es gar nicht erwarten
    auf nackten Füßen, nichts am Leib als eine Unterhose
    Ich lief ihm nach mit seinen Schuhn
    ich schrie ihm nach durch das Gitter –
    He, deine Schuhe!
    Gespenster tragen keine Schuhe, das hatte ich vergessen
    Die Abendsonne folgte ihm
    sie konnte es noch weniger erwarten
    ein kleiner Lauf noch und es war dunkel
    Als das Zeichen zum Schlafen schrillte
    dachte ich
    an seinen vertraut gewordenen Schweißgeruch
    an dieses Vorbild im Wassersparen
    hat sich an den Hundstagen nur alle drei Tage gewaschen
    fast wären wir ihm vor der Zeit ans Leben
    Wenn er mit seinem Gestank den Höllenfürsten umbringt, wird er befördert
    – man sagt
    das Schweigen sei unser Beifall
    18. Juli 1990

Das Mantou
    Kurz nach dem Frühstück war er dran
    er saß am Rand des Kang
    stopfte sich ein halbes Mantou in den Mund
    Dieses halbe Mantou
    wird für alle Ewigkeit in seinem Mund bleiben
    die andere Hälfte
    steckt mir im Hals
    Der Husten, der mich zerreißt, ist wie eine Rauchwand
    er zog die Fessel hinter sich her
    schlingerte mit dem Hinterteil, als er ging
    hinter ihm war kein Schützengraben
    dieser zu Tode erschreckte Deserteur
    klebte nur noch mit dem Rücken an der alten Wand, wie ein Säugling beim Stillen
    pulte er ein großes Stück von der Ölfarbe ab
    Der Onkel Polizist kam herein, ein Lächeln
    wie Milch, Zucker oder Kuchen
    er winkte mit seiner schneeweißen Hand
    da kam die Morgenröte herauf
    es war mitten im Winter, an einem der seltenen
    warmen Tage
    Vielleicht war es auch Reif
    vielleicht der Höhepunkt des Winters
    zwei Gefangene in der Umerziehung durch Arbeit (wir nennen sie Rotfelle)
    Bauern, die keine Jahreszeit versäumten, kamen
    rote, schlichte Gesichter
    wie Tomaten aus dem Gewächshaus
    offenherzig breiteten sie die Handflächen aus
    stiegen auf den Kang wie auf einen Graben
    vor ihnen das endlose Land
    stellten die Sänfte auf
    bereit, das Feld zu bestellen
    Der Deserteur fiel im Handumdrehn in die Sänfte
    Gesicht zum Himmel
    von einem Kinderspiel ins Paradies gebracht
    das Mantou in seinem Mund
    hinterließ den Eindruck, in diesem Hungergefängnis
    gäbe es Kleidung und Essen im Überfluss
    14. November 1990

Der Konflikt
    Der zum Tode

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