Für ein Lied und hundert Lieder
unseren Köpfen sprechen wir über den Tod
unter den ewigen Neonröhren sprechen wir über den Tod
ob wir auf den Knien dahingehen oder im Stehen
ob die Kugel das Herz durchschlägt
oder den Hinterkopf
ob der Henker ein guter Schütze ist
wohin die Soße spritzt
ob der Seele, wenn sie aus der Höhle fährt
Zeit bleibt für ein Lachen
ob die Beine wie Masten nach oben stehen
wenn der Arsch kopfüber in die Grube fährt
Das Rasseln der Ketten zerfließt im Geplätscher des Totenflusses
Wenn am Vorabend deiner Erschießung
der Gerichtsarzt dir das halbe Blut abzapft
wirst du dich fühlen, als ob du schwebst
dein Puls wird langsam wie ein Federballspiel im All
Gebell, größer als der Saturn
fällt über dich her
Worauf wartest du noch
genieß das gute Gefühl
was du der Welt zu sagen hattest, hast du gesagt
die Welt sollte Todgeweihten etwas mitgeben
so etwas wie Gott, den taubstummen Drecksack
vergeblich wächst einer Zeit ihre Zunge
Blutleckerin
nur Mundentsprungene sind ohne Gefühl
nur Leibgeborene wie wir
kennen den Schmerz
und noch der Übelste nennt eine »Mutter«
Der Tod ist ein weißer Schein
ein endloser Tunnel
ein ach so romantischer Zug, ein Kugeln
ejakulierender Penis
untröstlich, wenn er nicht trifft
Weich wie Baumwolle
deine Hände werden weich wie Baumwolle
sie können nichts mehr halten
deinen letzten Batzen Kot drückst du hinaus Richtung Sonnenabort
Der Anus hat gesprochen
er ist noch Jungfrau
ihm hat es der alte Himmelsvater noch nicht besorgt
15. Juli 1990
Irgendein Abend
An diesem Tag wurde die Stimme des Wachhabenden auf einmal sanft
als streiche ein tiefes Seufzen um alte Gassen
der Junge war fort, war ein Erdhaufen in der Ferne
die Mutter eilte ihm nach, zu spät
am Himmel erschienen Elektrozäune
der zum Tode Verurteilte neben mir trieb augenblicklich dorthin
der Wachhabende rief noch einmal
noch sanfter
die Nostalgie
erstickte uns alle in Tränen
der Todeskandidat wuchs in der Antwort
wie ein klingelndes Geschwür
wurde er aus der vollgestopften Zelle
gegraben
Unsere Köpfe waren leer
Der Kopf von Todeskandidaten
heißt es, ist auch leer
er hat sich nicht einmal umgedreht zum Abschied
oder gesungen
wie der Revolutionär im Roman »Roter Fels«
er konnte es gar nicht erwarten
auf nackten Füßen, nichts am Leib als eine Unterhose
Ich lief ihm nach mit seinen Schuhn
ich schrie ihm nach durch das Gitter –
He, deine Schuhe!
Gespenster tragen keine Schuhe, das hatte ich vergessen
Die Abendsonne folgte ihm
sie konnte es noch weniger erwarten
ein kleiner Lauf noch und es war dunkel
Als das Zeichen zum Schlafen schrillte
dachte ich
an seinen vertraut gewordenen Schweißgeruch
an dieses Vorbild im Wassersparen
hat sich an den Hundstagen nur alle drei Tage gewaschen
fast wären wir ihm vor der Zeit ans Leben
Wenn er mit seinem Gestank den Höllenfürsten umbringt, wird er befördert
– man sagt
das Schweigen sei unser Beifall
18. Juli 1990
Das Mantou
Kurz nach dem Frühstück war er dran
er saß am Rand des Kang
stopfte sich ein halbes Mantou in den Mund
Dieses halbe Mantou
wird für alle Ewigkeit in seinem Mund bleiben
die andere Hälfte
steckt mir im Hals
Der Husten, der mich zerreißt, ist wie eine Rauchwand
er zog die Fessel hinter sich her
schlingerte mit dem Hinterteil, als er ging
hinter ihm war kein Schützengraben
dieser zu Tode erschreckte Deserteur
klebte nur noch mit dem Rücken an der alten Wand, wie ein Säugling beim Stillen
pulte er ein großes Stück von der Ölfarbe ab
Der Onkel Polizist kam herein, ein Lächeln
wie Milch, Zucker oder Kuchen
er winkte mit seiner schneeweißen Hand
da kam die Morgenröte herauf
es war mitten im Winter, an einem der seltenen
warmen Tage
Vielleicht war es auch Reif
vielleicht der Höhepunkt des Winters
zwei Gefangene in der Umerziehung durch Arbeit (wir nennen sie Rotfelle)
Bauern, die keine Jahreszeit versäumten, kamen
rote, schlichte Gesichter
wie Tomaten aus dem Gewächshaus
offenherzig breiteten sie die Handflächen aus
stiegen auf den Kang wie auf einen Graben
vor ihnen das endlose Land
stellten die Sänfte auf
bereit, das Feld zu bestellen
Der Deserteur fiel im Handumdrehn in die Sänfte
Gesicht zum Himmel
von einem Kinderspiel ins Paradies gebracht
das Mantou in seinem Mund
hinterließ den Eindruck, in diesem Hungergefängnis
gäbe es Kleidung und Essen im Überfluss
14. November 1990
Der Konflikt
Der zum Tode
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