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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Verurteilte schritt, die Fessel hinter sich
    die vier Quadratmeter des Betonkangs ab
    wer hier nicht zum Tode verurteilt war
    war wie ein stinkiges Dreckloch
    dem er verächtlich auswich
    Bis er fett wurde, in einer Woche
    dieser Edle spürte den Schmerz, zu fett zu sein, erst
    als er mit einem Bein schon in der Pforte der Hölle stand
    »Es ist ein Geschwür«, sagt er
    keiner beachtete ihn
    »Letzte Nacht habe ich von einem Geist geträumt«, sagt er weiter
    »sah aus wie unser Dichter, unser Konterrevolutionär«
    Mir sprühte Feuer aus den Augen
    dann juckte mein Unterleib
    als seien die Filzläuse in Aufruhr
    Filzläuse nagen vor allem an deinem Gerät
    während normale Läuse an allem nagen
    es ist der gleiche Unterschied
    wie zwischen einem Dichter und normalen Menschen
    Ich habe es vergessen
    vergessen, warum ich jemanden warnen soll
    bin ich ein Dichter?
    Das Mark juckt entsetzlich
    wie kommt man mit der Hand unter die Haut
    um eine von der Zeit ausgehöhlte Epoche zu kratzen?
    Der Platz, die Toten, die vom System in Marsch gesetzten Panzer
    Hier die Ölfarben aus dem Kinderparadies
    war das das Blut vom 4. Juni?
    Ich war schon als Kind verlogen
    ich habe mir immer wieder Autounfälle vorgestellt
    bis dann tatsächlich einer geschah
    Meine Schwester starb im Frühling 1988
    Wie ein geheimes Signal, das einen tollwütig macht
    dreht sich der Reifen weiter in meinen Adern
    stürzt mich ins Leere
    Der Todeskandidat wich aus
    dann flossen die Tränen, wie aus einer Quelle
    »Die Frist ist um«, sagte er und machte mir die Faust auf
    »kein Spiel mehr.«
    »Kein Spiel mehr, Bruder, komm gut hinüber!«
    Vor dem Gitter stand der verstörte Wärter
    während oben der Wachsoldat schrie:
    »Wenn das Schwein fett ist, muss man es schlachten!«
    2. Juli 1991

In jener Nacht
    In jener Nacht sah ich im Traum meine andere Seite weiblich werden
    ich drehte die Hand und kniff
    in die auf meinem Rücken aufragenden Brüste, es tat weh
    in jener Nacht stieß ein altmodisches Gewehr mir durch den After ins Herz
    es ging los
    und meine obere Hälfte war Hackfleisch
    Jemand bewegte die Ruder am schiffsförmigen Himmel
    die zu Hackfleisch gewordenen Ausbrecher und Unruhestifter
    nahmen den Mond als Geisel, attackierten die Finsternis
    und du, Sonne
    unantastbarer reisgelber Gewehrkolben
    wer weiß, wessen Unterkiefer du wieder krummschlugst
    In jener Nacht hat ein kleiner Richter namens Liao Yiwu mich vergewaltigt
    in jener Nacht ist ein hoher Offizier namens Liao Yiwu über meinen Scheitel patrouilliert
    die Gefangenen haben sich aufgesetzt und gelacht
    – Liao Yiwu
    schau doch mal, wieso wachsen mir Titten und Möse?
    Die Milch ist zu salzig
     Schwefelsäure der Erinnerung
     entzündungshemmendes Salz
     kristallin
     hochgiftige Embryonen sprießen überall
     In jener Nacht hat die elektrische Eisentür ein paarmal geknarrt
     einmal kam ein Gespenst herein
     ein Seil aber erwürgte nur einen Wind
     Der Wind
     mit dem Wind herumkommandiert
     der abgestumpfte Wind
     der ausgezehrte, Fesseln schleppende Wind
     ich sehe, wie er sich leicht über ein Wiegenlied beugt
     die abgerissenen Schuhe des Windes, sammle sie ein
     die Zunge des Windes, roll sie ein
     In jener Nacht grub ich einen Nerv
     aus meinem Kopf voll Dreck
     er war eine bleiche Schlammschmerle
     wollte mir aus der Hand gleiten
     eine zolllange Maus
     die hier lebte seit dem ersten Jahr der Republik
     hat sich die eingerostete Hüfte verrenkt
     sagte, Schlammschmerle sei ihr zu fett
     sie habe lieber Gemüse
     In jener Nacht in jener Nacht
     in der Nacht jener Nacht
     angetrunken
     und ein Hühnerbein nagend huschte ein Wärter am Gitterfenster vorbei
    15. Juni 1991

Für meine Tochter
    Lass mich in die Ecke setzen
    in ein vermeintliches Gebet
    male ich dir mit auf den Rücken gefesselten
    Händen ein Kreuz
    Miaomiao, mein Töchterchen
    Meine Kleine mit dem hochgereckten Kopf
    jeden Tag esse ich dich aus dem Staub
    das Oberfenster aus Beton reißt den Mond in Stücke
    ich sehe dich von den nebligen Bergen oder vom Sattel
    Fallen
    Die Reiterin fällt wie eine Axt
    enthauptet mich mit Augenblicken
    bricht mir die Arme
    meine beiden blutüberströmten Boote
    wohin treibt ihr heut Nacht
    Wo Boote sind, ist Wasser
    Wasser! Ach, Wasser
    Wasser kann man nicht abstellen
    Fesseln kann man nicht schließen
    Wasser ist, was keine Faust, Peitsche, Seil, Knüppel unterwerfen kann
    Wasser
    gewiefter Stoff von

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