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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Gittertür
    Hier ist der Abzug dieses Backofens
    hier kann ich auf der Stelle laufen
    ein lautloser Langlauf
    so stürzt die verlorene Seele in eine tiefere Schicht der Hölle
    in der Ferne
    auf der Achthundertmeilen-Wasserstraße
    machen die Schiffe Langlauf auf den Rücken der Fische
    dann bewegt sich die ganze Zelle
    auf dem Rücken von Fischen
    Köpfe oder Schwänze von Fischen, keine Ahnung
    was da schnarcht unter den Hüften der Häftlinge
    der wogenglitzernde Schweiß wird immer noch mehr
    die Fische der Todeskandidaten wollen es etwas skurriler
    warum sonst wären sie in Fesseln?
    Ich finde es etwas kühler im Wasser
    kühler geht es nicht
    sonst müsste ich im Laufen oder stehend träumen
    Der Regierung auf Nachtpatrouille
    fällt wie ein Rasiermesser
    sausend über den Hinterkopf her. Die Haare stellen sich auf
    dreh dich um Himmels willen nicht um!
    Es sei denn, du hörst ein »pssst«
    Die Wildnis aus den Kinderjahren der Menschheit
    der Wolf nähert sich den Kehlen der Nachtschwärmer mit einem Kuss
    »Ich habe schon ein paarmal psst gemacht.« Am nächsten Tag
    steht der Regierung voller Mitleid im strahlenden Sonnenlicht
    legt an meiner Stelle Rückenfesseln an
    »Du stammst bestimmt von einem Hahn ab,
    die können auch im Stehen schlafen!«
    Weich hänge ich an der Treppe
    wie ein Batzen Scheiße, warte
    dass man mich zurück in die Zelle schaufelt
    wie ein Traum in einem Traum
    meine Hände werden zu einem Baum, schräg das Gitter hinauf
    Zweige und Äste kriechen die Mauer hoch, winken und skandieren:
    Frei-heit, Frei-heit
    Die Freiheit, mit der Fischjunge den Himmel hochschwimmen
    die Freiheit, mit der man im Traum spricht
    die Freiheit, mit der man mit Außerirdischen Briefe wechselt
    Wenn Gott schläft
    kann ich ihm dann eine Rückenfessel verpassen?
    31. August 1990

Windfisch [67]
    Die Sonne ist wieder hinter den Bergen untergegangen
    ich presse das Gesicht zwischen zwei Gitterstäbe
    zähle Flosse um Flosse
    die gesprenkelten Fische, die über die Mauerkrone aus dem Innenhof fliehn
    Bis es dunkel ist und die Straßenlampen in der Ferne
    sichtlich die kalte Schulter zeigen
    während der Speisetisch Gottes
    sich biegt unter Fischhäppchen voller Sterne
    ich kann den Mund nur weiter aufreißen
    krachend weiterkauen
    an der appetitanregenden Luft
    »Du hast doch gerade zu Abend gegessen,
    und jetzt willst du dein Heimweh fressen?«
    Der Todeskandidat hinter mir zitiert
    unbedacht einen Vers
    seine Augen werden für eine Weile blaugrün
    »Halte den Wind nicht auf
    er gehört dem Kollektiv
    er kommt vom anderen Ufer des Flusses Jialing
    es ist der Wind von rotgebratenem Fisch«
    Ich muss den Abzug freigeben
    damit alle in den Genuss der bedeutungslosen Köstlichkeit kommen
    einer nutzt das, um sich aufzuplustern
    von wegen, wie toll seine Alte Fisch brät
    aus den ganzen Gassen seien die Katzen gekommen
    keine hätte mehr Mäuse gefangen
    Ein anderer widerspricht zu Recht –
    die Mäuse im Knast
    würden nicht fett von den Fischen zu Haus!
    Resultat: Aus dem Wortgefecht wird ein Hauen und Treten
    der Regierung schnappt sich die beiden rechtzeitig. Befiehlt
    eine Verlegung des Kampfplatzes nach draußen
    ihnen werden mit dem Elektroknüppel die Schuppen gebeizt
    sehr schnell sind sie verkohlt
    Wir sind mit Spannung dabei
    wir hören das Gebrüll, mit dem sie in der Fritteuse verschwinden
    »Der Preis ist zu hoch«, sagt der Todeskandidat leise
    scheiß Fisch
    Mösenwind, der einem die Augen totbläht und einen verhungern lässt
    5. September 1991

Die Flutkatastrophe
    Die Flutkatastrophe überschwemmt die Renmin ribao
    wir lernen Satz für Satz, bereuen unsere Taten
    machen eifrig unsere Arbeit
    als sei das Leid der Flutopfer
    unsere Schuld
    Die Fressnäpfe werden gegen immer kleinere getauscht
    Kürbissuppe, gelb wie die Milch von Mutter Huanghe
    Kürbissuppe, bis einem die Augen dumpf werden
    die Todeskandidaten zittern schon an der Wand lang
    während ich nicht vorhabe, mich überhaupt zu bewegen
    Sehr gut möglich
    dass durch lange Verhaltung
    der Drang zur Entleerung so drängend wird
    wie japanische Soldaten
    nur so kann man den Hunger strategisch verlagern
    Aber der Kampf geht weiter mit wechselndem Glück
    man darf nicht kapitulieren
    man darf nicht unkontrolliert in Schweiß ausbrechen
    denn im Schweiß
    ist dieser betäubende Blutgeruch und Salz
    Schweiß kann man nicht recyceln und den Hunger stillen
    das einzige Fleisch, das wir zu Gesicht bekommen
    sind Spulwürmer und Ratten
    selbst

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