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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ist, wie dick die Erde, er weiß ja nicht einmal, was er selbst tut.
    Wie viel Zeit soll ich noch verschwenden für diesen langen Text über fast zwanzig Jahre meines Lebens?
    Es gibt auf der Welt Wichtigeres zu tun, aber das kann ich nicht, und ich habe auch nicht die Zeit dazu, ein Tor kann immer nur an einer Sache festhalten.
    Am Nachmittag des 10. Oktober 1995 hat das Amt für Öffentliche Ordnung meine Wohnung gestürmt und das ursprüngliche Manuskript von gut 300 000 Zeichen beschlagnahmt, Arbeit und Herzblut von über einem Jahr. Ich hatte keine Wahl, ich musste von vorne anfangen, aber viele wertvolle Erinnerungen sind dadurch für immer verlorengegangen.
    Ich danke dem Himmel, dass ich mehrfach die Erfahrung machen durfte, eine Katastrophe zu überleben. Jetzt, da ich dieses Buch der Öffentlichkeit übergebe, ist mir das ein bei weitem weniger dringliches Anliegen als zu Beginn seiner Niederschrift, denn es hat in der Unterwelt noch einen weiteren Leser, meine Schwester Feifei.
    Manchmal ist sie da, in meinem Blut, in meinen murmelnden Selbstgesprächen. Ich muss von Zeit zu Zeit in mich gehen, um die Reinheit und den Frieden meiner Seele zu bewahren, damit das Gespenst meiner Schwester, das so viele Jahre herumgeirrt ist, dort Zuflucht findet.
    Sie mochte Männer mit Selbstachtung, und das ist es, was Schreiben konstant vermitteln kann: Würde.
     
    Erstes Manuskript 10. Oktober 1995 bis 31. Dezember 1997
    Drittes Manuskript 27. November 2000 bis 1. Januar 2001
    Sechste Überarbeitung 30. Oktober bis 9. November 2009

Liebeslieder aus dem Gulag (1990–1994)
    Meiner Mutter
    Meine Verse waren dir immer zu lang
    und jetzt zwingt das Schicksal deinen Sohn
    in einen kurzen Satz
    an dem weiter gestrichen wird
    bis nichts mehr ist, nur noch Hülle
    ein gesichtsloses, vergewaltigtes Wort
    Bis auch das Wort nicht mehr ist
    ich nur noch ein Langzeichen bin
    falsch geschrieben meist wegen der vielen Striche
    Ich bin alt
    sehe älter aus als du
    komme ich eines Tages heim
    wird der Glatzkopf dich noch »Mutter« nennen, vor allen?
    Spüre ich das noch – Liebe? Ertrage
    den viel zu sanften Windhauch?
    16. März 1991

Für einen zum Tode Verurteilten
    Wir schliefen auf dem Kang
    du, meine Beine umklammert
    ich, deine Kette an die Brust gepresst
    bis es brannte, das sture Eisen
    es zog, vom ersten Stock runter
    du frorst, zogst den Kopf in die Decke
    als enthaupte der Henker
    mit Beilen aus Wind
    Hat es etwas genutzt? Bruder
    es wird nicht mehr enthauptet
    die Kugel geht durch das Herz
    eine Blume platzt
    deiner Mutter bleibt der Schmerz
    und das Zahlen der Kugelgebühr
    dann bringt sie dich unter die Erde
    Im Wahn tat ich das zigmal
    tief im Winter, wir drängten uns blutüberströmt
    Hast du, sanft wie du bist, denn wirklich gehasst?
    War deine böse Wut am falschen Ort?
    Im Namen des Gesetzes
    das ist die letzte Herberge diesseits
    hier wohnen die lebenden Toten, ein Jahr oder mehr
    mancher reist durch, hat es eilig, will weiter
    deine Zeit war nicht lang, nicht kurz
    wie du selbst, eins siebenundsechzig
    Sie haben dich ausradiert, danach, der Abend, war ungewohnt
    ohne den Druck deiner Kette auf der Brust
    wie ein Schiff ohne Anker
    die Seele, in schiefer Schwerelosigkeit
    du sagtest einmal, wenn ich ein Gespenst bin
    komm ich zum Baden zum Fluss
    und besuche dich, sauber
    Ein Spaß? Vermächtnis?
    Oder das bewegende Gedicht, das ich hier hörte?
    Ich bin im Traum ertrunken
    in Tränen, wach war
    mein Gesicht eine Wüste
    kein Tropfen
    ich bin ein Politischer von ’89? Warum
    will ich das immer vergessen, meine Geschichte, den Glauben
    die Gespenster vom Tiananmen?
    Der Glaube vor den Mauern
    die Seelen vor dem Himmel
    alles wird älter
    die leben, werden
    vor meinen Augen, Gespenster
    neue Gespenster und alte Gespenster
    politische und kriminelle Gespenster
    was ist der Unterschied?
    Hallo, ihr in den Bergen da oben, ihr Bauern
    habt ihr die Panzer gesehen, die Flüsse aus Blut?
    Auch ich sah sie nicht
    lieber hätte ich nichts gesehen
    als den Hintern meiner Alten
    wie ihr
    Aber mein Herz ist schwach
    nichts hemmt mein Mitleid für Halunken
    oft
    schreckt mich schluchzend ein Wind
    ich sehe nichts, nur einen Schatten, am Fenster
    vorbeigezerrt und bis an die Zähne bewaffnet
    Bruder, bist du zurück?
    Stehen Gespenster, die das Gefängnis verließen
    nicht um Mitternacht auf?
    17. Mai 1992

Zum Tode Verurteilte sprechen über den Tod
    Eine Sternennacht, eine Schädeldecke mit Einschusslöchern
    In

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