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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Nachdem er sämtliche Kleider und Hosen beschriftet hatte, wandte er sich Decken und Bettzeug zu, dann den Wänden und dem Boden. Es war wie ein Wahn. Als seine bessere Hälfte gegen Morgen eingenickt war, nutzte er die Gelegenheit und schmierte seine Zeichen auch auf ihr faltiges, von Tränen zerfurchtes Gesicht.
    Der alte Mann hatte in diesem Leben schließlich doch noch etwas Neues gefunden, er zerriss ein rotes Tuch, band es sich um den Kopf, raffte sich auf, ging vors Haus und suchte Menschen, die er vollschreiben konnte. Die jungen Mädchen flohen vor ihm, und die Kinder versteckten sich. Manch einer nahm einen Stein in die Hand oder einen Ziegel und warf nach ihm, er marschierte weiter, trotz »des Waldes von Gewehren und des Schauers von Geschossen«, stellte sich den Leuten, die sich nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatten, in den Weg, machte einen Kotau und wollte sie beschriften. Meine Schwester schnappte ihr sechs Monate altes Baby, aber sie war nicht schnell genug, also ließ sie den armen Hund gewähren und sich den rechten Arm beschreiben. Dort stand: »Lang lebe die Demokratie!«
     
    Am Abend erfuhr ich, dass sich Michael Day noch in Chengdu aufhielt, auf einen Hinweis des Dichters Ouyang begab ich mich zum Gästehaus des Konservatoriums von Sichuan. Kaum war ich durch die Tür, sah ich, dass er hohen Besuch hatte, der gute Day ordnete einen Berg von Untergrundgedichten, als handele es sich dabei um den größten Schatz. Lan Ma und Liu Tao hatten Kopfhörer auf und hörten sich das »Massaker« an und taten sehr geheimnisvoll. Liu Tao erzählte mir, sie sei Augenzeugin der Unruhen auf der Renmin-Südstraße gewesen: »Unter der winkenden Mao-Statue haben sich zwei Fraktionen gebildet, eine war ein wilder Haufen, sie haben die Polizei, die mit Schilden und Helmen eine Menschenmauer aufgebaut hatte, mit Kalkbeuteln, Sprudelflaschen und Ziegelsteinen beworfen, es ging ein paarmal hin und her, die Polizei hat angefangen, Tränengasgranaten einzusetzen, ein paar ungehobelte ›Rowdys‹ haben geschrien: ›Die Granatenpimmel, das ist Müll, chinesische Produktion, die werfen niemanden um, ihr braucht keine Angst zu haben!‹ Die Stimmung der Massen schlug für einen Augenblick sehr hoch, die Polizisten konnten sie nicht mehr halten, da gaben sie ein paar Salven ab, und die Leute stürzten davon; gerade in diesem Augenblick schrie irgend so ein Idiot: ›Die Granaten sind aus Westdeutschland, die verätzen noch einen toten Ochsen!‹«
    Polizeiautos fegten wie ein Sturm durch die Straßen, die Hauptstraßen und Gassen wimmelten von offenen und verdeckten Ermittlern, ich begleitete Michael zu Ouyang, in diesem Auf- und Abklingen von scharfen Trillerpfeifen haben wir »Massaker« gehört. Mit von der Partie war der Dichter Ma Song, ein Flegel. Obwohl ich das Ganze schon unzählige Male gehört hatte, blieb mir doch noch immer die Luft weg von dem, was der Liao Yiwu auf dem Band da machte.
    Alle hatten das Gefühl, auf einem Pulverfaß zu sitzen: »Und wenn uns jetzt die Bullen die Bude stürmen, was dann?«, fragte Ma Song.
    Niemand antwortete. Ouyang nahm sofort das Band heraus, gab es Michael Day zurück und tauschte es gegen Schumanns »Serenade«. »Was nie passiert ist, kann auch keiner wissen«, sagte er, »ab sofort leide ich unter Amnesie.«
    Michael Day saß da und lachte kalt, Ma Song nervte herum und wollte Schriftzeichen-Erkennen spielen. Es klopfte, noch ein Dichter kam herein und erzählte uns allen sein Geheimnis: Er hatte nach dem 4. Juni ein Widerstandsgedicht geschrieben, das er zu Hause unter einem Wasserkrug versteckt hielt.
    Die Gesichter verdüsterten sich immer mehr, Ouyang stand eine geschlagene Viertelstunde in Gedanken versunken am Fenster, das zur Straße hinausging, dann drehte sich die kleine und schmale Gestalt um und verkündete, seine Wohnung stünde unter der Aufsicht des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit.
    Seine Gäste übergingen den peinlichen Augenblick und zogen sich kollektiv zurück, man drückte einander die Hand, pass auf dich auf, pass auf dich auf – es war wie bei einem Begräbnis.
     
    Es war Hochsommer, in China herrschte Totenstille, ein gigantischer Friedhof. Das »Massaker« machte seinen Weg, vermutete ich, aber ich wusste nicht, ob sich das Seil um meinen Hals langsam zuzog oder nicht.
    Ich führte ein Leben wie in einer Leichenhalle, einen nach dem anderen aus meiner Generation bahrte ich auf. Gestern beim Essen ermutigten mich

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