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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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seinem halben Kugelschreiber von einem Pimmelchen zerrt als sei es ein Kunstwerk.
    Die Leute drängten auf ihn ein, warfen ihn zu Boden, brachten ihn mit auf den Rücken gefesselten Händen zurück und banden ihn mit grobem Maschendraht an einen Baumstumpf.
    Um Mitternacht gab es ein heftiges Gewitter, im Nu schüttete es wie aus Kübeln, und der Dachfirst bebte unter den fortgesetzten Donnerschlägen. Meine Mutter rief, ich solle aufstehen und mit Ziegeln die Türschwelle höher machen und das schnell steigende Wasser daran hindern, in die Wohnung einzudringen. Ich krempelte die Hosenbeine hoch wie einer vom Hochwasserschutz, doch als ich den Kopf hob, sah ich Yinwa, ganz alleine, er schaute mich mit einem kalten Lächeln an.
    Blitze zuckten, er sah aus wie ein großer Kaktus, sein ganzer Körper war mit giftgetränkten magischen Nadeln gespickt. Plötzlich begann er mit seinen nackten Füßen rhythmisch zu stampfen, der Schlamm spritzte. Wie auf der Bühne schwenkte er feierlich den Kopf, hob die Augen zum Himmel und gab eine Strophe aus einer revolutionären Modelloper zum Besten:
    Lernt von der Kiefer auf dem Berge Tai
    Tausend Donnern hält sie stand
    Tausend Stürme gehn an ihr vorbei!
    Als Yinwa einmal in die Rolle gefunden hatte, brüllte er bis zum nächsten Morgen weiter, und der tief erschrockene Zhong Gaoling beeilte sich, den Seuchengott auf den Weg zu bringen. Auf dem Weg in die Irrenanstalt warf sich Yinwa in der Pose eines Märtyrers auf dem Weg zur Hinrichtung hocherhobenen Hauptes in die Brust, gab revolutionäre Grundsätze zum Besten und schrie: »Nieder mit den japanischen Imperialisten! Lang lebe die Kommunistische Partei! Lang lebe Mao Zedong!« Seine Stimme war ganz klar und ließ nicht nach.
    Laozi hat einmal gesagt, der Lebensgeist sei in neugeborenen Kindern am stärksten, sie könnten den ganzen Tag schreien, ohne heiser zu werden, sie wüssten nichts von der Vereinigung der Geschlechter und doch stehe ihr kleines Männchen häufig auf, Knochen und Muskeln seien zart und schwach, aber die kleinen Fäustchen könnten fest zupacken, selbst giftige Insekten, wilde Tiere und Naturkatastrophen könnten ihnen nichts anhaben. Wie es aussieht, kommt nur ein Verrückter dem Zustand eines solchen Säuglings nah.
    Am Nachmittag des nächsten Tages kam meine Schwester nach Hause und erzählte eine weitere Geschichte von jemandem, der den Verstand verloren hatte: Der einzige Sohn eines Mittelschullehrers aus Chengdu hatte im vergangenen Jahr die Aufnahmeprüfung an einer Markenuniversität in Beijing geschafft. Unglücklicherweise geriet er in die Labyrinthe der Studentenrevolte und wurde von unseren Befriedungstruppen als Unruhestifter »unterdrückt«. Als die schlimme Nachricht ihn erreichte, brach der alte Herr zusammen. Als er zwei Tage später wieder zu sich kam, drückte man ihm eine Mitteilung in die Hand, die den Stempel eines hohen kommunistischen Beamten trug. Er wurde aufgefordert, binnen einer Woche bei irgendeiner Stelle der Zivilverwaltung 300 Renminbi einzuzahlen, um die Asche seines Sohnes einzulösen.
    Der alte Mann fing an zu lachen, stand in einer sehr arroganten Weise auf und ging, auf seine Alte gestützt, der das Ganze ein Rätsel war, davon. Der alte Mann stakste, mechanisch, wie in Leichenstarre, er lief über die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Wenn die anderen ihn beschimpften, drehte er sich um und nahm die Beleidigungen mit leerem Blick entgegen. Er hatte gerade die Asche seines Sohnes zurückgekauft, als unvermuteterweise ein Student aus dem Norden, der in den Süden geflohen war, dessen Hinterlassenschaft vorbeibrachte – ein weißes Hemd, auf dem in blutroten Buchstaben stand: »Lang lebe die Demokratie«.
    Nach Auskunft dieses Mitstudenten flogen in der Nacht vom 4. Juni der Menge die Kugeln wie Heuschrecken um die Ohren, viele seien unter seinen Augen gefallen, er sei ein großes Risiko eingegangen, um dem Toten das blutige Hemd vom Körper zu ziehen; auf dem Ärmel standen noch ein paar Kontaktadressen und Telefonnummern. Er war entschlossen gewesen, sich für sein Land zu opfern.
    Der alte Mann legte sich das »Lang lebe die Demokratie« über die Knie, saß da wie vor den Kopf geschlagen und brütete vor sich hin. Gegen Abend erhob er sich, achtete nicht auf die wiederholten Ermahnungen seiner Alten, kehrte in Truhen und Schränken das Unterste nach oben, kramte alle Kleider und Wertsachen heraus und beschrieb sie abwechselnd mit Pinsel und mit Füller.

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