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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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diesem beschissenen China besorgen, mit all diesem Zeugs, diesen Unmassen von Eisenbahnen, Dampfern, Schornsteinen und Kanonen würde ich es ihm besorgen; ich verkündete, ich würde fliehen, die Grenze überqueren oder mir an der Küste einen Fischer mieten.
    Liu Taiheng empfahl mich rechtzeitig bei Zeng Lei, danach wurde der Vorführraum des audiovisuellen Lernzentrums der Dritten Militärmedizinischen Universität zu meinem festen Tatort. Zeng Lei kam aus einer Soldatenfamilie, er hatte ein paarmal in vorderster Linie im zweiten Krieg zwischen China und Vietnam [16] gekämpft und war ein Kunstbesessener mit einem extremen Gerechtigkeitsgefühl. Nachdem er mir völlig den Kopf verdreht hatte, verlor ich jedes revolutionäre Prinzip, und er ließ mich nackt unter einem Scheinwerfer lesen.
    Der Raum war zu groß, ich wedelte mit den Armen, um ihn zu füllen, mein Schatten hob sich vom Boden gegen die Wand, als wachse mir ein überdimensionaler Schwanz aus dem Hintern.
    Einmal habe ich mir mit der Faust eigenhändig die Fresse dick gehauen. So ist mein anmaßender Auftrittsstil entstanden, den ich dann für viele Jahre beibehalten habe. Und als ich mir die Seele Gedicht für Gedicht abgenutzt hatte, war mein Körper ein wirres Häufchen Elend, das schließlich der hilfsbereite gute Liu mit Humanismus aufgepeppt hat.
    Einmal war ich ein paar Kilometer zu Fuß unterwegs zu einem Stelldichein in einem geräumigen Verwaltungsgebäude von irgendeiner Einheit. Die Straßen waren ausgestorben, die wenigen Passanten gingen einander aus dem Weg. Ich kam über eine Anhöhe in ein mondloses, windiges Gebiet. Neben dem Ziel meiner Wanderung war ein Laden für Blumenkränze, ich stieg über die Mauer, und von diesem erhöhten strategischen Punkt aus fiel mein Blick kurz auf ein aus Papier gefaltetes Seelenhaus, wie man es für Tote verbrennt, und die Leuchtreklame einer Leichenkammer.
    Ich ging über den geräumigen Hof, fand die stockdunkle Treppe, tastete mich in den vierten Stock hinauf und trat, bevor ich die Tür aufstieß, auf eine Maus, die mit einem Quietschen verschwand.
    Meine Beute lehnte am Kopfende eines Einzelbettes und las. Ich schaute mich im Raum um, es war ein großer Schuppen, von dem nur der kleine Teil in der Ecke genutzt wurde.
    »Wie in einer Kirche«, scherzte ich, »hast du auch brav gebetet?«
    Die Kleine legte das Buch weg und fing geräuschvoll an zu zittern, und zwar in einer Art, dass einem ganz anders wurde. Die Temperatur war auf dem Siedepunkt, ich wollte gerade in sie eindringen, da stieß sie auf einmal einen langen Schrei aus, ich bin vor Schreck aus dem Bett gefallen. Ich fasste meinen Kopf mit beiden Händen, um mir das metallische Gefühl, das da drin summte und kreiste, aus dem Schädel zu pressen. Wir belauerten uns eine gute Viertelstunde, dann versuchten wir es noch einmal; aber sie fing wieder an zu schreien – ein Glück, dass das Gebäude leer war, sonst hätten die Leute gedacht, hier wird jemand umgebracht.
    Ich hockte auf der Bettkante und forschte vorsichtig in diesen runden Augen: »Ich brauche das nicht, ich bin nicht pervers.«
    »Tut mir leid«, wimmerte die Kleine leise.
    »Schreist du, weil du so scharf bist?«
    »Ich kann nichts dafür, dein schwarzes, düsteres Gesicht, wie eine Kette.«
    »Was?«
    »Eine Panzerkette. In der Nacht damals, ich, Nana und Maohui, wir waren ein Dutzend Mädchen, eines hübscher als das andere. Wir sind von den Truppen am Tiananmen auseinandergetrieben worden, wir wussten nicht, warum sie das taten, aber hinterher waren wir nicht mehr zusammen. Die Straßen schwammen von Stahlhelmen, wie ein schwarzer Fluss, dann fing das Schießen an, und gepanzerte Fahrzeuge rasten an uns vorbei. Alles ist schreiend auseinandergerannt, nur weg, nur weg. Wir sind bis zum Ende einer Gasse gelaufen, da haben uns die gepanzerten Fahrzeuge verjagt. Ich bin schnell auf den Bürgersteig gesprungen und habe mich hinter einem Baum versteckt, die Maschine ist kreischend gegen eine Wand gefahren, hat brummend zurückgesetzt und sich gedreht, wie ein Brummkreisel, es hat einen richtigen Wirbel gegeben. Nana und Maohui wurden weggefegt und waren augenblicklich ein Teil des Eisens. Nana war einfach nicht mehr da, bis auf ihren Kopf, der lag auf der Panzerkette und rollte nach vorn, wie eine Plastikpuppe; Maohui hatte es in der Mitte auseinandergerissen, ich habe ihren Mund gesehen, er war keinen Meter von mir weg, er war offen, wie bei einem Frosch, aber es kam kein Laut

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