Für ein Lied und hundert Lieder
ehemalige Dichtergenossen in Weinlaune hinterhältig: »Mach weiter, man muss sein Leben einsetzen, wenn man schreibt, und wenn du fertig bist, versteck es gut, wenn es hell wird, komme ich vorbei, ich kaufe das ganze Manuskript.«
Die Chinesen bauten Nester wie die Wahnsinnigen, alle zwei, drei Tage schoss ein Hochhaus aus dem Boden, ob die Dinger solide waren, scherte niemanden. Als ich 94 aus dem Knast und nach Chengdu zurückkam, lief ich einen ganzen Nachmittag in meinem kleinen Bezirk Baiguolin herum, ich habe meine Haustür nicht gefunden. Der Kuli eines Fahrrads mit Beiwagen zog mich schadenfroh durch die Gegend, er war von der schönen Hoffnung beseelt, mich zu schröpfen – bis ich ihm meine leuchtende Glatze zeigte: »Bruder, und wenn ich dich mal ziehen würde?!« Da erst begriff er, dass er einen Verbrecher vor sich hatte.
Vor ’89 waren die Wege viel einfacher. Ein Haus mit sechs Stockwerken galt als hoch. Am hinteren Tor zum Militärgebiet hatte so ein sechsstöckiges Hochhaus gestanden. Nach den Unruhen saßen die Soldaten tödlich gelangweilt in den Kneipen, fraßen, soffen und spielten Fingerknobeln; wenn sie voll waren, rissen sie sich ihre Uniformen vom Leib und belästigten mit nacktem Oberkörper irgendwelche Passanten. Es reichte ihnen nicht, die Leute zu Boden zu werfen, sie spielten auch noch »Fußball« mit ihnen. Als es den Leuten ans Leben ging, flammten im entscheidenden Augenblick in dem sechsstöckigen Gebäude alle Lichter auf, die Fenster wurden geräuschvoll aufgerissen, und aus allen kam das gleiche Gebrüll: »Soldaten, marsch zurück!«
Ich kannte den Film, Zweiter Weltkrieg, das besetzte Frankreich, die gleichen Szenen in den Straßen, das gleiche Gebrüll aus dem Hochhaus, nur in einer anderen Sprache: »Deutsche, marsch zurück!«
Blut ist rot, Widerstand hört nicht an den Landesgrenzen auf, das sechsstöckige Gebäude ist längst abgerissen, ein neues Firmenhochhaus ist rasch hochgezogen worden, in dem postmodernen Umfeld ständigen Wandels und ständiger Instabilität ist ein ganzes Volk vom Immobilienfieber befallen – aber das Ganze war ein Projekt vom Ende des letzten Jahrhunderts und lange im Voraus geplant, es sollte die bitteren Erinnerungen begraben. Die alteingesessenen Chengduer bezogen nach und nach neue Wohnungen, die Kluft wurde immer größer, die Widersprüche zur Qualität der Bauten täglich sichtbarer, die Wunden der neuen Lebenskrise überdeckten allmählich die alten Blutspuren.
Dylan Thomas hat sich zu Tode gesoffen, in seinem »Trauerlied« sagt er: »Bevor es Mittag wird, Morgen und Abend, in jeder Minute/gibt es Ströme von Toten.«
Diese Zeilen beschreiben exakt die belebteste alte Einkaufsmeile von Chengdu, die Chunxi-Straße. Wenn es den Leuten reicht, dann bummeln sie durch die Straßen, geben Geld aus und sterben in Kleiderstoffen, Knöpfen und Schminkdöschen.
Die traurigste kollektive Straßenparade gab es in einer Stadt in Hubei. Als die Hiobsbotschaft vom Massaker in Beijing kam, stürzten ein paar hundert Studenten aus der einzigen großen Fachhochschule der Stadt, in Viererreihen wischten sie mit ihren weißen Stirnbändern den Boden, »sie gingen in härenen Trauergewändern« durch die hochstehende Mittagssonne. Keine Parolen, keine Schlagworte, Transparente und Grabgesänge, das Scharren der Füße in diesem glitzernden Traumbild, sie hielten nicht an und hätten vielleicht irgendwann das Nirwana erreicht, die Sonne war ein riesiger Brennofen, in dem es knackend brannte, selbst die Polizisten, die den Befehl hatten, das Ganze »zu befrieden«, standen wie unter einem Bann, ihre Blicke waren in die Ferne gerichtet – erst als der Polizeichef gereizt und aufgebracht heranstürmte, erwachten alle wie aus einem Traum. Der alte Mann tätschelte einem Schäferhund den Kopf und schimpfte: »Ihr seht Gespenster, am helllichten Tag! Nicht einmal du gibst einen Ton von dir!«
Ich schleppte das »Massaker« überall mit mir herum, wann immer sich eine Gelegenheit bot, zog ich es heraus und führte es den Genossen vor. Ich selbst saß dabei und ließ keinen aus den Augen. Wenn ich sah, dass jemand blass wurde, stieg bei mir das Gefühlsthermometer. Ich wollte nicht den Helden geben, aber die ganze Welt war verrückt geworden, wie hätte ich da meine eigenen Hände und Füße kontrollieren sollen?
Ich schrieb einen Haufen Briefe, in einem Stil, als wären meine Tage auf Erden gezählt, ich würde, schwor ich, ich würde es
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