Für ein Lied und hundert Lieder
aus ihm heraus. Ich habe einfach nur geschrien, keine Ahnung, wann sie mich ins Krankenhaus gebracht haben.«
»Du bist noch nicht wieder gesund. Du solltest zum Arzt gehen.«
»Ich war zwei Monate im Krankenhaus, der Arzt sagte, ich sei nicht ganz richtig im Kopf. Die Zeitungen, das Fernsehen und meine Mitkranken, alle seien sich einig, dass an dem Abend damals niemand ums Leben gekommen ist. Am Anfang war ich außer mir, ich habe mit ihnen herumgestritten, später habe ich mich dann damit abgefunden; und noch später musste ich öffentlich zugeben, dass ich Gerüchte in die Welt gesetzt habe und dass ich das nicht weiter machen darf.«
»Und Nana und Maohui?«
»Vielleicht haben sie nach ihrem Abschluss weit weg in Xinjiang eine Arbeit zugewiesen bekommen und vergessen, mir zu schreiben. Das waren schon immer ganz faule Hühner.«
»Sie hätten sich gemeldet«, sagte ich grausam. »Wenn du morgen früh aufstehst, siehst du unten in dem Kranzladen unter der Treppe ein bisschen frisches Grün, das kommt von ihnen.«
»Du bist ein bisschen romantisch.«
»Die Welt ist schlecht, die Menschen sind verrückt.«
»Echt?«
Die Kleine war ganz aufgeregt: »Ganz früher einmal habe ich Gedichte von dir gelesen, die haben so etwas Heilsames.«
Ein warmer Strom schlug mir gegen die Brust, hinter diesem naiven Gesicht erkannte ich den Schatten meiner Feifei.
»Du solltest dir nicht selbst Gewalt antun!«, murmelte ich für mich.
»Ich möchte noch einmal das ›Massaker‹ hören!«
»Ich kann nicht zum ›Massaker‹ mit dir Liebe machen.«
»Hast du Angst?«
Ich nickte und zog sie an. Die Kleine nahm meine Hand und schmiegte ihr Gesicht hinein.
»Du wirst sicher wieder gesund, Bartgesicht!«
Ich hatte Tränen in den Augen und beeilte mich, sie wegzuschieben. Ich drehte mich um und stellte den Rekorder an. Die tief aus der Seele kommenden Geräusche des Massakers breiteten sich aus. Ich brauchte kein Mitleid, ich war ein Dreck, ich hatte kein Mitleid verdient.
Ich zog mich hastig an, ich wollte weg. Die Kleine tändelte an mir herum.
»Nein«, wehrte ich ab. Es war finsterste Nacht, eine große Uhr schlug dröhnend.
»Zwölf«, betete die Kleine murmelnd, »die Stunde der Hoffnung.«
»Der Trauer.«
Es war ein sich endlos hinziehender Schreibprozess, ich hatte kein Arbeitszimmer, ich hatte keinen Schreibtisch, und ich hatte keine Hoffnung. Im Vergleich mit dem Knast wurde die Zeit, an der ich mich über den Tisch beugte, jeden Tag kürzer, ich war arm bis auf die Knochen und ließ mich wieder einmal schamlos von den Eltern durchschleppen, ich musste mir eine Arbeit suchen. Der alte Dichter Sun Jingxuan empfahl mich bei der Zeitschrift »Handbuch für Privatlehrer«, eine sehr ermüdende Tätigkeit.
Ein Künstler muss in den Tag hineinleben, das ist sein Beruf, anfangs konnte ich nicht anders, ich musste in den Tag hineinleben, später war es besser gewesen, ich hätte es getan, aber ich hatte Angst davor, zusammengerollt auf dem Bett zu liegen und auf weißes Papier zu starren.
Erinnerungen? Erinnerung, was war das? Ein Spalt? Wenn die Realität von beiden Seiten auf einen eindrang, gab es dann keine Erinnerung mehr? Kakerlaken krabbelten aus dem Spalt, es heißt, sie gehören zu den ältesten Lebewesen auf der Welt.
1990, tiefer Winter, die kälteste Zeit. Ich stehe alleine an der Mauer im Hof, auf der Erde liegt Reif, kein Tag ist wie der andere, die Reifblumen hängen an Fäden aneinander, ich schrumpfe, bin eine Ameise, die auf diesen Fäden zurückkrabbelt.
Vor sechs Jahren, A Xia und ihre Heimlichtuerei. Sie machte in aller Eile Feierabend, schaute nach dem Abendessen nicht mehr fern, sondern glitt ohne einen Ton ins Schlafzimmer, schrieb und schrieb und malte und malte, als ob sie unter einem Druck gestanden hätte. Damals hat sie eine ganze Menge ausgezeichneter Bilder gemalt, mit dem Kuli, jede Linie, jeder Punkt, in allem war eine ungewisse Leidenschaft, es war ihre Art zu beten, und der Priester, dem sie gegenüberstand, spiegelte sich in ihrer eigenen Pupille.
Wenn ein über Jahre unveränderter Glaube an eine Liebe auf einmal ins Wanken gerät, verkommt das Zuhause zu einer Herberge, und das nicht nur für die Freunde, die auf die schiefe Bahn geraten sind, sondern auch für einen selbst.
In den Bildern von A Xia waren Sonne und Mond nicht auseinanderzuhalten, in solch einem Ur-Universum, in dem überall Krisen lauern, verliert der Mensch die Orientierung und hält den
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