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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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mit dir los?«, wunderte ich mich.
    »Seit dem 4. Juni hat keiner mehr gute Laune«, sagte Li Mai, »manchmal habe ich das Gefühl, Dichter sind der letzte Dreck.«
    »Die künstlerische Revolution, die in den 80er Jahren angefangen hat, ist tot«, sagte Liang Yue, »die Studentenrevolte hat uns um zehn Jahre zurückgeworfen.«
    »Was Texte angeht, Gedichte auf Chinesisch sind ausgereizt, es gibt kein Sprachexperiment, das wir noch nicht gemacht hätten«, ich plusterte mich auf, »die 90er Jahre, das ist die Zeit der Stimmen, die Stimme ist ein Genre der Postmoderne, durch seine Gewalt gegen die schriftlichen Genres ist es in den Massenmedien wie Radio, Fernsehen und Film aufgegangen …«
    »Mach dir mal keine Illusionen!«, stichelte Li Yawei, »wenn die Partei will, dass du still bist, dann hältst du die Klappe.«
    Alle tranken eine Weile betrübt weiter, A Xia nickte weg und verließ mit Xiaomin den Schauplatz. Die restlichen fünf Hänger kamen immer schlechter drauf.
    »Das wäre ein Thema für dein nächstes Gedicht«, meinte Liu Taiheng leise zu mir, »ein Leben nicht Mensch und nicht Geist, die Leute tun so, als wäre nichts geschehen, sie sind durch den Terror völlig demoralisiert, und wenn die Knochen einmal weich sind, kehrt keiner mehr um. Selbst der Himmel ist am Schimmeln, die Sonne ist da hingeschmiert wie ein großer Haufen Scheiße – hol die verlorenen Seelen zurück, Bartgesicht!«
    »Lebt denn überhaupt noch jemand in diesem Land?«, sagte Li Mai. »Wenn du morgen früh aufwachst und an diesen Augenblick denkst, hast du dann nicht das Gefühl, das war Scheiße, eine ganz andere Welt?«
    »Ungefähr, als würde ich an etwas denken, das ein paar hundert Jahre her ist«, lachte ich. »Die Zeit ist derart kaputt, wenn die Leute nur leben wollen, müssen sie immer wieder dieses Leben aufs Spiel setzen, um einen Beweis dafür da zu lassen, dass es sie einmal gegeben hat.«
    »Du bist natürlich so ein unumstößlicher Beweis«, sagte Li Mai neidisch, »deine Stimme ist die lauteste der chinesischen Dichtung in diesem Jahrhundert.«
    »Und es ist die einzige laute Stimme in dieser Zeit aus Blut und Eisen, wenn du nur bis zum Ende des Jahrhunderts weitermachen kannst«, wünschte sich Liu Taiheng.
    »Kein Problem!« Ich war ganz besoffen im Kopf von der ganzen Lobhudelei: »Wenn nur der Film ein Erfolg wird!«
    Draußen ging die Knallerei los, wir drückten uns alle auf den Balkon, Feuerbäume und Silberblumen, ein erhebender Anblick. Für die Leute war das nicht nur der Abschied vom Alten und ein Willkommen für das Neue, es war auch ihre Art der Therapie, die aufgestaute trübe Stimmung loszuwerden.
    »Dieses Jahr geht es aber besonders lange«, Li Yawei schaute auf seine Armbanduhr, »über eine halbe Stunde!«
    Liang Yue sagte: »Überall im Land haben sie mehr als sonst ausgegeben für Feuerwerk, mit dem ganzen Geld könnte man wahrscheinlich eine Stadt wie unser Fuling bauen …«
    »Geizhals!«, fielen alle über ihn her und und zogen ihn vom Balkon. Das Zimmer war ein einziger Aschenbecher.
    »Bring einen Ventilator her«, sagte Liu Taiheng, »das ist dann wie Kracher abbrennen.«
    Als er sich herumgewälzt hatte, sage Li Mai bedauernd: »Wir haben ja noch gar nichts getrunken!«
    »Spar ein bisschen am Schnaps, du könntest das Geld für den Film brauchen«, sagte Li Yawei.
    »Na klar, Requisiten, Kulissen, Kosten für die Theatertruppe, Materialmiete und so weiter und so fort, überall wird Geld gebraucht«, stöhnte Liu Taiheng, »ich spende jetzt erst einmal dreihundert Kuai.«
    »Ich gebe siebenhundert«, beeilte ich mich, »dann sind es tausend, und dann ist da ja auch noch unser Finanzchef Zhou Zhongling, der spendet sicher auch was.«
    »Das Honorar von der Zeitschrift ›Zuojia‹ kommt nächsten Monat, das sind schätzungsweise zwei-, dreihundert, die spende ich komplett.«
    »Vergiss es, Yawei«, mahnte Taiheng, »du hast ohnehin nichts auf der Naht.«
    »Von den paar hundert Kuai werde ich auch nicht reich!« Li Yawei schlug sich gegen die Stirn: »Da ist ja auch noch Gou Mingjun, der hat auch zugesagt, dass er zweihundert rausrückt.«
    »Der ist doch gerade erst aus dem Knast gekommen, also lass es lieber!«, sagte ich.
    »Er hat es selbst versprochen, ich kann das nicht einfach lassen«, beharrte Li Yawei, »wenn du die Pekunie von dem Säufer nicht willst, dann jagt er sie die Kehle runter.«
    »Ich spende auch zweihundert«, schloss Li Mai sich an.
    »Ich auch.« Liang

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