Für ein Lied und hundert Lieder
Die Ströme von Blut waren nicht nur ein Gräuel, sie versetzten die Menschen auch in eine krankhafte Aufregung, sie setzten eine selbstzerstörerische Kraft frei, es war, als wolle sich jedermann den Körper aufreißen, um ein Jucken loszuwerden.
Ich saß da und trauerte meinem alten Leben nach. Mist war, dass ich auch noch liebte. Liebe ist ein schleichendes Gift, in kritischen Augenblicken schwächt es den Menschen. Ich öffnete den Kassettenrekorder, mit dem ich das »Massaker« aufgenommen hatte, und hörte wieder und wieder Mozarts »Requiem«. Hinter mir das Bett, draußen die Regennacht, A Xias düsteres, halb im Schatten liegendes Gesicht.
Ich wagte nicht, mich umzudrehen, ich machte einen Buckel, konstruierte mich als alten Mann. Ich malte ein Blatt Papier mit langen und kurzen Regenwürmern voll, Gespenster schwangen sich aus den Wellenmustern heraus, die Toten lebten im »Requiem«, Mozart, den sie unnachgiebig da hineingezogen hatten, mutierte zum Vorarbeiter von Gespenstermassen. Millimetergroße Gesangsteams zogen mir über die Wimpern, und wenn man einen undeutlichen Fleck vom Fensterrahmen wischte, war das so, als wische man eine ganze Welt weg, ganz leicht, wie eine Schwanenfeder. So verfuhr der Schöpfer mit der Welt.
Ich schrieb ohne Hand und Fuß, wenn ich den Stift sinken ließ, überschlugen sich Gedanken und Gefühle. Ich machte ein Testament, die Gespenster, mit Mozart an der Spitze, mahnten mich, Ruhe zu bewahren. Mozarts Melodien mit ihren weißen, wehenden Gewändern fuhren mir wie eiskalte Fingerspitzen über das Gesicht, ich schob sie weg, nicht so, so nicht, ich hielt diese jenseitigen Zärtlichkeiten nicht aus.
Das Testament war zu lang.
Die entkleidete Welt. Die schutzlose Welt. Die Welt der Lämmer, der Schwachen, der Starken.
Du saugst den Staub aus dem Frühling, den Tau aus den Wurzeln der Gräser, sie waren einst ein Palast, die Frauen, die Lokomotiven, die Schiffskolonnen im All. Weine nicht. Weine nicht, die Menschen im Staub der Welt, die schlaffen, sterbenden Körper, lass sterben.
Schlaftschlaftschlaft, meine Gan Jiang und Mo Ye [17] , meine Xi Shi [18] und Goujian [19] , meine Brüder und Schwestern im »Buch der Lieder«, müht euch nicht, lebt nicht für den Leib, für das Essen, die Kleidung, nicht für das Wandeln, alles ist Wahn, die Heimaten, Systeme und Massenversammlungen, die Familien, roten Fahnen, die Fesseln und Befreiungen, alles ist Wahn. Kommt, schlaft, kommt, kommt. Im Tod ist es sicher, dort gibt es nicht Regierung, Gesetz, Grenze und Waffe, im Tod ist es sicher. In China ist es sicher. Vor Jahren, nach Jahren, der Himmel rührt sich nicht, eine Pferdehaut umhüllt den General, die Mutter ernährt die Kinder, die Frau schmiegt sich an den Mann, der Mann schützt die Frau, der Himmel rührt sich nicht, die Chinesen auf den Marmorreliefs rühren sich nicht, höre, die Rufe sind fern, sind nah, um dich herum, in deinem Körper. Wo willst du hin? Feuer. Am Himmel überall Feuer. Flugblätter. Wütende Schreie. Erschreckte Schreie, grausame Schreie. Panzer, dicht wie Läuse, kriechen in die gelbe Stadt. Das Vaterland hat Krätze. Wohin kannst du gehen? Schlafschlaf, du kommst nicht über die Feuerwände, die Blutlachen hinweg. Schlafschlaf, Lieber, der Ruf ist süß. Chinesen. Chinesen. Wessen Stimme ist es, die murmelt, wer kommt, erwidert, die Chinesen sind tot?
Lederstiefel, Patronen, rostiges Blut, im Visier der Mündungen – du. Wie schön, diese Flammen. Mädchen, schnell wie Donner und Blitz, rot, ins Auge stechende Röcke. Hör zu, höre, verstecke dich nicht, keine Bewegung, sie sollen dich mit erhobenem Gesicht angreifen, sie sollen dich plötzlich fesseln, du bist ein Nichts, im Nichts ein Kern, unendlich klein, ein Kern in ewiger Frucht, der letzte. Nur du kannst dein Ich sehn, gekauert in ein durchsichtiges Ei, die noch formlose Faust am Kinn, das Licht des Gestirns, es knackt dir den Schädel, wie einer Ameise. Unter deinen Lenden hebt sich des Schöpfers Geschlecht, Männer, Milliarden, ahmen deine Bewegungen nach. Ejakulieren. Wie schön die Flammen, die durchlöcherte Zeit, Fortpflanzungsorgane und Gewehrläufe, die sich beschießen, deine Hände kleben von Blut – der Geburt, der Massaker.
Schlaftschlaft, Mörder, Geköpfte. Frisches Blut in den Stein gebrannt, das Moos ist fett und es leuchtet. Die Sonne, ein Stein, von dem Blut tropft, es wechselt, es wechselt, es wechselt Frieden und Krieg. Unter der Sonne, die
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