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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Yue wollte nicht der Letzte sein.
    »Na, Bartgesicht, jetzt hängt es an dir«, feuerte mich Taiheng an.
    »Dann machen wir das alle zusammen«, ich heuchelte Bescheidenheit.
    »Li Yawei und ich werden in der nächsten Zeit üben, diesmal singst du die Hauptrolle.«
    Wenn ich in die Begräbnismienen meiner Freunde schaute, wurde mir selbst ganz anders: »So wird es gemacht!«
     
    Am Frühlingsfest bin ich nicht nach Chengdu zu meinen Eltern gefahren, Mutter plapperte: »Wenn du nicht da bist, habe ich auch keine Lust zu kochen!«
    Vielleicht war es Gedankenübertragung, als gegen Ende der Neujahrswoche meine Familie in eine leerstehende Wohnung ging und A Xia und ich uns schweigend gegenüberstanden, da dachten wir beide an meine ungewöhnlich launische Mutter. Sie hatte sich alles Mögliche einfallen lassen, um meine Hochzeit zu verhindern. In der Nacht, bevor ich mich entschloss, nach Fuling zu ziehen, schwor sie bei ihrem Leben, sie würde mich nicht an den Kleiderschrank lassen, sie heulte und biss um sich wie eine Wölfin. Ich hielt ihr die Hände fest und ordnete mein Gepäck, sie versuchte, mich wegzuziehen, und nagelte mich mit ihrem Kopf gegen die Wand. Zuerst war ich ganz durcheinander, dann ging mir der Gaul durch – es war schon so, es war eine dunkle Kraft, die uns von den Müttern wegzog, und sie war lange sehr schlecht auf A Xia zu sprechen.
    Kurz nach dem 4. Juni tauchte meine Mutter, die sich noch nie um Politik gekümmert hatte, in Fuling auf. Sie war kaum von dem Schiff herunter, als sie schon auf die Himmelstreppe zustürzte und zu heulen anfing: »Ermao, du Schwachkopf, du Narr, was hast du in so einem armseligen Kaff zu suchen!« Und dann machte sie sich seufzend und stöhnend an den Aufstieg, er dauerte fast eine Stunde.
    In dem strategischen Ausguck, der meine Wohnung war, hielt es sie nur einen Tag, dann murmelte sie etwas von sie wolle heim. Um Mitternacht ging sie an Bord. Was sollte ich machen, ich begleitete sie an den Kai, und weil mir bei der ganzen Sache nicht wohl war, löste ich eine Fahrkarte nach Chongqing, von wo ich von ihr auch noch bis nach Chengdu gelotst wurde. Sie sagte immer: »Du hast deine alte Mutter verlassen, früher oder später kommst du in Schwierigkeiten.«
    Ich war älter geworden und fing an, familiäre Bindung wichtig zu finden, ich dachte wehmütig an die verlorene Kindheit. Ach, ob meine Mutter eine Ahnung hatte, wie einsam ich war? Das reale Massaker und das Band mit meinem »Massaker« lasteten auf mir wie schwere Schatten, ich war entwurzelt, die Familie war eine Last, aber ich brachte es nicht übers Herz, diesen Lebensbaum herauszureißen, Unentschlossenheit war mir längst zur Gewohnheit geworden.
    Seit über einem halben Jahr bereitete ich eine Flucht vor, beantragte eine Zugangserlaubnis für das Grenzgebiet, setzte mich mit einem alten Freund in Hongkong in Verbindung, legte eine Route fest, träumte sogar davon, mir an der Küste einen Fischer anzuheuern und übers Meer zu fliehen … jedes Mal verwarf ich meine Pläne, vertraute auf den Zufall oder auf mein Glück, ich liebte.
    Aber jetzt war ich an einem Punkt, an dem ich mich entscheiden musste: Das Amt für Öffentliche Sicherheit weigerte sich, mir eine Zugangserlaubnis für das Grenzgebiet in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen auszustellen, irgendein Li sowieso, der Leiter des Kulturamts, untersagte mir entschieden jede Form von Dienstreise, ich stand im wahrsten Sinne des Wortes unter Beobachtung.
    Dieser endlos kalte Regen, ich zog mich in den hintersten Winkel zurück, und prüfte mein Nest immer wieder: den Teppich, das Sofa, die kraftstrotzende Königin der Nacht (Epiphyllum) in dem großen Blumentopf, die Stehlampe, den riesigen Vorhang mit den Sternen drauf, die Zeitungscollagen, die ich gemacht hatte. Über fünf Jahre waren mehr Kumpels hier ein und aus gegangen, ich selbst auch, die Tage waren wie silberne Knöpfe an einer Kette sich lang hinziehender Nächte, das alles sauste vorbei, der Hausherr und seine Gäste kosteten den Wein, hörten Musik. Ich hatte mir über die Tage und Monate ein behagliches Nest gebaut und würde es doch von einem Augenblick auf den anderen wegwischen und meine Frau und meine Mutter, die einander meinetwegen hassten, hinter mir lassen müssen.
    Die Wurzel allen Übels waren die Lesungen, das war mir in die Wiege gelegt, dieses Brandzeichen des erzwungenen Helden. Seit meine Schwester Feifei verweht war, war die Welt ein sehr unsicherer Ort geworden.

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