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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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tropft, die blutet, schlaft, Hochhäuser, Straßen, schlaft. Schlaft, Schulen. Schlaf, Abfall. Luft, schlaf. Zeitungen, Manifeste und Stifte, schlaft. Schlaft, Mädchen. Schlaft, Kasernen und Brillen. Und du, Utopie, Götze ewiger Ruhe, du Licht aus Sonne und Mond, schlaf. Dachfirst an Dachfirst, Mensch an Mensch, der letzte Vorhang fällt langsam, höre, der Ruf ist nah, nah. Der Ruf, der dich fasst, nackte silbrige Körper folgen dem Winken des Rufs. So viele Flüsse ändern den Lauf, fließen zurück, sammeln, ergießen sich, oben, in das Meer der Toten, mit Wellen, breit wie Bananenblätter, Blitze brechen Köpfe auf. Das Meer, sein regloses Seidenmuster lärmt, rollt, Fischschuppen schimmern. Das Licht von den Schuppen fällt tief in die Höhlung der Welt, Berge und Flüsse, die sich heben und senken, neue Seen und Meere. Schlaftschlaft. Schlaftschlaft, Fische im Blitz, Einwohner vom Maizhi-Berg, deine Vergangenheit ist leer, deine Vergangenheit ist leer.
     
    Mörder, ich weine um dich. Die ihr betet für die armen Seelen, denen Unrecht geschah, ich weine um euch. Schlafschlaf, ohne Boot setzt du über, wie dies Lied, durch so viele Munde gegangen, Blätter, gelb und welk, fallen noch immer. Ihr Herren, da oben, ihr müsst es ertragen, das ist euer Fall.
     
    Hört, der Ruf kommt von so nah, so fern. Fern. Jemand fragt: Wie schreibt man chinesisch? Dann das Fallen von Zehntausenden Köpfen. Die Abendsonne rieselt wie Schnee. Schlaft, schlaft, der Ruf ist so fern, so fern, ruht, Kinder, seid ihr müde gespielt, werft es weg, die Erde, das Spielzeug? Ruhtsanftruhtsanft …
     
    Die Musik hörte auf, nein, sie hing in der Luft, unsichtbare Hände schlugen gegen leuchtende Tasten. Ein gewaltiger Sarg, der Sarg der Zehntausend Dinge, an deren Ursprung man mich taufte. Kaum lagen die Grenzen meines Körpers hinter mir, und alles stand kopf. Auf die Morgenankündigung der Hähne schrieb ich, mit Datum, »Requiem« und vor das Gedicht setzte ich ein Graffito: »Eine Hexe fälscht deinen Gesang/lockt uns in den Tod«.
     
    Ich lag auf dem Bett, schlief, A Xia setzte sich auf, das Haar um die Schultern, bereit, sich zu waschen, zu kämmen, zur Arbeit zu gehen. Am Nachmittag habe ich auf ihrem Frisiertisch, der gleichzeitig mein Schreibtisch ist, wieder meine Manuskripte, meine Stifte ausgebreitet und laufe wie immer im Zimmer auf und ab – ich hätte nicht gedacht, dass das das letzte Gedicht ist, das sie mir ins Reine schreibt.
     
    Am Frühlingsanfang kam Gou Mingjun zu Besuch. Weil er angeblich dem Anführer der Studentenunruhen, einem gewissen Pan, Unterschlupf gewährt hat, war er zu Unrecht über zwei Monate im Gefängnis, aber er hat es wider Erwarten ganz behaglich gehabt. Es hieß, an dem Tag, an dem er eingesperrt wurde, hätte er seinen Feuertopf-Laden gerade aufgemacht, die Glückwunsch-Böller hätten einen Heidenlärm veranstaltet, die beiden Beschuldigten, dieser Pan und unser Gou, seien sternhagelvoll gewesen, hätten die Beamten, die zur Polizeistunde vorbeischauten, wie Gäste behandelt und ständig krakeelt: »Kommt rein! Kommt rein!«
    Danach hat man die beiden an einer Handschelle zusammengebunden, sie wurden mit vier Polizeiwagen und einem guten Dutzend Beamter noch in derselben Nacht in die Provinzhauptstadt gebracht, dort hat man sie in das alte Gefängnis in der Ningxia-Straße geworfen.
    »Ich bin an vier Wachen vorbeigekommen, ich habe Sterne gesehen«, erzählte der alte Gou und kratzte sich die typische Verbrecherglatze. »Das Gefängnis ist schrecklich überfüllt, aber der König der Gauner da drin meinte, für einen Dichter wie mich würden sie doch gleich zwei Arschbreiten freimachen. In der Nähe waren mehrere leuchtende Glatzköpfe, fünf Knastbrüder hielten den Ehrenplatz auf der linken Seite besetzt, darunter ein Zwerg, auf einen einzigen Blick von ihm hin wurde ich gepackt und auf den Bauch geworfen, ich hörte nur noch, wie er seinen Tee schlürfte und in amtlichem Ton loslegte: ›Der Lump ist also ein Dichter? Verdammt seltener Anblick, ich habe schon über 20 Jahre keinen Dichter mehr zu Gesicht bekommen! Aber wenn du schon da bist, dann lass mal was hören, wir sind alle ganz Ohr, die Formalitäten schenken wir uns!‹
    Ich hatte mich von dem Schreck noch nicht richtig erholt, da meinte ein anderer von den Brüdern: ›Steht da wie eine Statue, ich wette acht zu eins, dass das ein falscher Fuffziger ist!‹
    Danach traf mich ein Fleischklopfer schwer auf dem Rücken.
    Ich

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