Für ein Lied und hundert Lieder
war die »Säuberung« des Platzes bereits in vollem Gange.
Zwei helle Salven brachten die Lautsprecher auf dem Kommandostand der Studenten zum Verstummen, damit war der Streit über Bleiben oder Abziehen unterbrochen. Unter Führung von ein paar wenigen stimmten die laxen Studenten per Akklamation und Lautstärke ab, am Ende wurden die »bleiben«-Rufe von den Rufen »abziehen« übertönt. Wir waren in kalten Schweiß gebadet, formierten uns in größter Eile, setzten an den Anfang der Kolonne ein Transparent und hielten die Formation, indem wir uns bei den Händen nahmen, ganz wie die städtischen Wachmannschaften. Wir mussten weg sein, bevor die Ausnahmetruppen auf uns zugriffen, wir durften niemanden zurücklassen, wir durften ihnen keinen Vorwand liefern, die Hemmung vor dem Töten aufzugeben. Der Tiananmen war voll von weinenden Menschen, aber alle taten ihr Bestes, ihre Trauer zu unterdrücken.
Frühmorgens um fünf dann haben die Ausnahmetruppen am Südeingang der Ostseite wie mit der Schere einen fächerförmigen Korridor aufgemacht, wir haben uns durch einen schmalen Spalt zurückgezogen, die Soldaten standen wie ein Zaun im Abstand von einem Schritt mit den Gewehren im Anschlag, Patronen auf der Brust, Helm stur auf die Augenbrauen heruntergedrückt. Im Rücken dieser Fleischwölfe starrten die gepanzerten Fahrzeuge, die Kanonen und die Panzer. Der Rückzug war zwar demütigend, aber wir waren am Leben. In dieser Nacht ist auf dem Tiananmen tatsächlich niemand gestorben, aber auf dem Chang’an-Boulevard, bei den sechs Ministerien, in der Cuiwei-Straße und am Muxidi und ein paar anderen Orten in der Peripherie kam es zu Zusammenstößen zwischen den Truppen und den Massen – das Blut ist geradezu in Strömen geflossen. In ganz Beijing waren es nach unseren Schätzungen ein paar tausend Tote.«
»Blutschuld muss mit Blut bezahlt werden!« Wan Xia malträtierte ungeduldig das Sofa. Wu Bin nickte und fuhr fort: »Das wird früher oder später auch so sein, die Leute werden nicht vergessen, dass da noch eine Rechnung offen ist.«
»Vielleicht«, sagte ich deprimiert, »aber die Toten werden davon nicht wieder lebendig, ein paar tausend, ja, aber sie sind völlig umsonst gestorben, und es ist noch nicht klar, um wie viele Jahre die Geschichte zurückgeworfen wird.«
Draußen kam ein Wind auf. Das Weltall war so unendlich groß, und wir saßen wie die Ameisen auf unserem Blatt und hielten es für ein Boot.
Es war fünf Uhr früh, auf leisen Sohlen ging jeder seiner Wege, ein Hahn krähte.
Als ich ins Bett kam, schreckte A Xia auf, sie hielt mich nervös fest. Gefühle sind zerbrechlich wie Glas. Wenn man ein Gefühl fallen lässt, kann man die Scherben nicht wieder zusammensetzen. Und während du noch erschrocken bist, ist in dir drin immer noch dieses Glas Wasser ganz heil, von dem du so fasziniert bist, obwohl an deinen Fingerspitzen schon das Blut herausläuft.
Ich beugte mich zu ihr hinüber und lauschte auf die Geräusche des Embryos, wir waren nur von einer dünnen Wand getrennt und doch so weit voneinander entfernt. »Das Schiff lichtet den Anker«, dachte ich, »noch einmal bindet mich keiner an.«
Wu Bin und seine Frau Liu Xia blieben zwei Tage in Fuling, insgeheim schmiedeten sie einen wohldurchdachten Fluchtplan für mich.
»Wenn du vorerst nicht das Land verlassen willst«, Wu Bin warf A Xia einen besorgten Blick zu und flüsterte, »schlage ich vor, du gehst nach Xi’an, zu meinem Kommilitonen Yang Zhengguang, der soll dich verstecken und in den Norden von Shaanxi bringen.«
Des Todes unerschrocken, schüttelte ich den Kopf.
»Na, dann besorgen wir dir eine Genehmigung für die Grenzgebiete.«
»Sinnlos«, sagte ich, »mach mir schnell einen Kontakt mit Zou Jin, er soll mich in Kanton abholen.«
Wu Bin murmelte: »Die Gegend von Fuling hat etwas sehr Ungutes, egal, wo man hingeht, immer hat man das Gefühl, man wird beobachtet. Pack sofort deine Sachen, du kommst mit uns, es sei denn, du hast Angst um deinen Film?«
»Das ist ein künstlerisches Experiment«, wehrte ich höflich ab, »das gehört noch in die 90er, das war die Zeit der Experimente mit Stimmen.«
»Das Bartgesicht soll in ein paar Tagen in Beijing mit Hou Dejian zusammenkommen, der kann ihm ein paar Auslandskontakte machen und ein bisschen was für den Lebensunterhalt besorgen«, sagte Liu Xia, »der hat so was von zwei linken Händen, wäre doch gut, wenn er im Ausland nicht gleich verhungert.«
»Wir
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