Für ein Lied und hundert Lieder
Lippeneinstellungen für den Vortrag des Gedichts und suchen nebenbei die Szenen aus«, ordnete unser Regisseur an, »die anderen suchen das Material, das wir brauchen, und leihen die Kostüme.«
Ich nutzte die Mittagspause und ging heimlich zur Post und rief Zou Jin in Shenzhen an, kam aber nicht durch, also schrieb ich ihm ein Telegramm: »Bartgesicht schwer erkrankt, Ankunft am 20. in Shenzhen, Arztbesuch«. Ich nutzte das bisschen Zeit und schrieb noch zwei Briefe, an Zhong Zhong und A Xia – beide Briefe waren später Beweisstücke für meinen illegalen Versuch, China zu verlassen. Der Brief an A Xia wurde sogar in der Anklageschrift exzerpiert: »Wenn das ›Requiem‹ fertig ist, werde ich in dieses Scheißland keinen Fuß mehr setzen!«
In die Partys hineinzukommen, die am Wochenende im Fremdspracheninstitut von Sichuan stattfanden, war kein Problem. Zwar waren da zwei Wachen postiert, aber Zhou Zhonglu hatte auf dem Gelände einen Verwandten, der uns durch den Eingang schleuste. Unser Regisseur Wan Xia konnte es gar nicht erwarten, wie eine verirrte Ziege griff er sich die erstbeste große, dralle Schöne und wirbelte sie herum, Li Yawei beharrte auf den Feinen: »Wenn man einmal fest auftritt, heben sich neun Köpfe, auf der Bühne und vor der Bühne, da ist überall Drama.«
»Ich habe auch am meisten Angst vor den Dicken«, stimmte Li Taiheng zu, »aber ganz gleich, ob dick oder dünn, groß oder klein, das Gesicht muss gut sein, das ist das eine, und dann muss die Hüfte geschmeidig sein, und gewisse Kurven müssen vorhanden sein.«
»Vielleicht sollte sie auch ein bisschen sonst was draufhaben? Kultur und so?«, beharrte Zeng Lei mit ernster Miene.
»Das sind doch alles Schwäne, wer kann da erkennen, ob sie auch kulturell etwas draufhaben?«, sagte ich verwirrt.
»Ich kann das!«, gab Wan Xia an, »meine Tanzpartnerin gerade war schon gar nicht so schlecht.«
Nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus hat jeder Mensch das Recht und den Maßstab, selbst zu entscheiden, was schön ist – Resultat: eine lange Reihe von Mädels, die scharf darauf waren, auf die Leinwand zu kommen, kam mit uns.
Die Kameras, die als Lockmittel dienten, standen wie eine Stalinorgel am Eingang des Korridors, Yawei, der bereits eine rotgepuderte Schöne im Visier hatte, wurde angewiesen, die Kameralampe hochzuhalten, die restlichen Mitglieder des Ensembles machten abwechselnd den Bühnenarbeiter, Kabelträger, Requisiteur oder das Servierfräulein; nur unser Regisseur stand wie ein Sohn aus besserem Hause neben dem Kameramann, drückte hin und wieder Zeng Leis Kopf zur Seite und kniff sein kleineres Auge, das wie eine Wunde wirkte, zu: »Beweg den Körper ein bisschen natürlicher, zieh den Obeschenkel etwas an, lass die rote Seide halb über den Oberkörper fallen … gut, und jetzt geh hier herüber, langsamer, du bist doch nicht auf dem Weg zur Arbeit … nein, das geht nicht, die Nächste!«
»Ich hab mir den Hals verrenkt«, entschuldigte sich Zeng Lei, »oder willst du den Apparat selbst einmal auf den Arm nehmen und drehen?«
»Nein, nein«, Wan Xia nahm das Kamerastativ, »ich schaue nur ein wenig zu, das ist schon in Ordnung.«
»Und das will ein Regisseur sein?«, schnaubte Li Yawei, »das könnte ich auch!«
Die Mädels mit ihren Goldfisch-Glupschaugen posierten bis Mitternacht in roten und grünen Umhängen und Klamotten, aber es war keine dabei, die wir brauchen konnten. Alle waren besorgt. Unser Regisseur Wan Xia, der immer noch etwas in petto hatte, schluckte langsam und rückte mit der Sprache heraus: »Ich habe schon eine Verabredung mit zwei großen Schönheiten, ich treffe sie morgen früh um neun, ihre Figuren, ihre Gesichter, besser als Models!«
»Und das mit unseren Schönen hier war alles für die Katz?« Ich war unzufrieden.
»Jetzt haben wir einen Vergleich«, Wan Xia zog sein kleineres Auge schief, »umso beeindruckter werdet ihr sein!«
Der Frühlingsregen nieselte, Chongqing ist einer der Orte mit dem sauersten Regen weltweit, der Himmel sieht aus wie eine schmutzige Windel, und unsere Gesichter waren grau wie der Himmel. Innerhalb von zwei Tagen machten wir die Studioaufnahmen, es war ein ziemliches Durcheinander, und unser Regisseur Wan verlor ein wenig die Orientierung. Als wir an einem Mittag die Arbeit wiederaufnahmen, fragte er auf einmal: »Bartgesicht, worum geht es eigentlich in deinem ›Requiem‹?«
»Was?«
Regisseur Wan beschrieb mit den Armen
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