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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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einen übertriebenen Kreis und machte mit dem Zeigefinger einen Punkt in dessen Mitte: »Man braucht doch wohl immer etwas, das sich von Anfang bis Ende durchzieht?!«
    »Was hast du denn da die ganzen letzten Tage gedreht?«
    »Das ist nicht ganz klar. Bartgesicht, sag mir die Wahrheit, das Zeug geht um den 4. Juni, richtig?«
    »Es geht um mich selbst«, ich lachte bitter, »in mir ist etwas Scharfes, Spitzes, ich versuche, es durch das Schreiben wegzubekommen, eine Art Therapie.«
    »Versteh ich nicht.«
    »Du verstehst es nicht, und mir geht es genauso. Wer versteht schon alles, was er schreibt? Am Anfang hatte ich den Gedanken, die Seelen vom 4. Juni zu trösten, das hat sich geändert, die Seelen der Toten selbst kommen aus meinen Zeilen, es hört nicht mehr auf. Unentwegt wiederholt sich die Geschichte, wirklich Trost brauchen die Lebenden, es sind die Toten, die für uns ein ewiges Requiem singen.«
    »Richtig, wir drehen weiter, unwissend, wie wir sind, in diesen Zeiten, bei diesen Gefühlen sind wir alle Waisenkinder.«
    »Waisenkinder?« Im Nu war ich hellwach: »Dass man sich geistig auf nichts verlassen kann? Nicht schlecht, das ist das ›Requiem‹ im Sinne der Augenzeugen von ’89.«
     
    Am Frühlingsfest 96 bin ich in meine alte Heimat zurück, bei Zhou Zhongling habe ich einen Haufen alter Bilder durchgesehen, die gesamte Filmcrew des »Requiems« war auf den Fotos. Einmal, es war im Sommer ’89, am Xiaonanhai-See im Kreis Qianjiang, drückt sich ein Dutzend nackter Wilder vor einer bronzefarbenen Lehmmauer herum, sie sehen alle aus wie Mörder. Zhou Zhongling sagte, das sei das einzige Mal im Leben gewesen, dass er seine Preziosen nackt zur Schau gestellt habe, er habe seither nie wieder den Mut gefunden, sich die Bilder anzuschauen, er hatte Angst, ihm könnte der Lebensmut abhandenkommen.
    Auf den anderen Fotos war das große Abschlussgelage der Dreharbeiten festgehalten, Zhou Zhongling war aus dem fernen Norden von Beipei herbeigeeilt, um den Gastgeber zu geben. Der Krösus warf mit dem Geld um sich, als sei es Dreck, mit seinen Einladungen besetzte er eine ganze Reihe von Tischen. Die Meute krakeelte besoffen durch die Gegend, es war, als hänge man den guten Zeiten von dem großen sozialistischen Reistopf nach, doch Wan Xia und ich machten finstere Gesichter, unsere Mienen waren alt, wir beide sahen aus, als wären wir über sechzig.
    Als es Zeit war, damit aufzuhören, schüttelte Zhou Zhongling jedem Einzelnen zum Abschied die Hand, in kürzester Zeit hat er mir achtmal zum Abschied die Hand geschüttelt, zuletzt hat er mich dann allerdings untergehakt, und wir sind zurück in die Wohnung von Liu Taiheng.
    Auf einmal hatte Wan Xia eine Eingebung und wollte mir unbedingt die Hexagramme legen. Ich lehnte ab: »Das geht nicht, das geht nicht, ich war noch nie beim Wahrsager!«
    Wan Xia sagte: »Dann brichst du halt deinen heiligen Vorsatz!«
    Ohne einen Widerspruch zu dulden, kramte er sechs Münzen heraus, warf sie in die Luft und ordnete an, ich solle sie eine nach der anderen aufsammeln, nach »gerade« oder »ungerade« waren sie Yin oder Yang und ergaben das Hexagramm »Brunnen«.
    Er stöberte im »Buch der Wandlungen« herum, bei den Erläuterungen stand, in meiner Übersetzung: »Wenn man eine Stadt umgestaltet und nicht den Brunnen, dann ist das so, als wäre nichts getan. Zu viele kommen zu schöpfen, bis der Brunnen trocken ist und versandet; doch wenn man ihn nicht aushebt und säubert und der Krug an seinem Seil zerbricht, dann ist das ein schlechtes Omen.«
    Eine Warnung der Götter! Aber damals war meine Intelligenz versandet, ich lachte darüber. Vier Tage später stürzte ich tatsächlich in den Brunnen. Ich war der Chip in einer unsichtbaren Hand, sie spielte mit mir Roulette, und so viele Jahre hatte ich keine Möglichkeit, Drehen und Stoppen, Gewinn und Verlust der Scheibe zu bestimmen – dass jeder Wurf der Hexagramme haarklein einem jeweiligen konkreten Abschnitt meines Lebens entsprach, nahm mir dabei jede Hoffnung.
    Unter den fünf Elementen gehöre ich zum Holz [22] , das Holz stammt von Wasser und Erde ab. Seit dem Tod meiner großen Schwester Feifei bis zu meinem Lotterleben, mit dem ich die Seele der Toten lästerte, und schließlich bis zur Entstehung des »Massakers« und des »Requiems« hatte ich Schritt für Schritt den Brunnen meiner Seele zerstört, am Ende bin ich abgestürzt und im Knast gelandet. Nacheinander erklärten mir die Deutungen der

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