Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Xia zeigte die Entrüstung seines missverstandenen Talents.
    »Es müsste heißen, Chinesen haben keinen Geschmack«, korrigierte Wu Bin. »Wenn du bedenkst, dass man sich mit dem Getreide und dem Gemüse nichts als chemischen Dünger reinschiebt, die Schweine werden mit chemischem Futter gemästet, in drei Monaten kommen die auf ein paar hundert Pfund. Das geht schon lange so, wir haben alle längst eine Überdosis Hormone im Körper, kein Wunder, dass überall auf der Welt die Dicken immer mehr zunehmen, außerdem führt das zu Frühreife, die Kleinen im Kindergarten sind schon verliebt.«
     
    Nach Mitternacht konnte A Xia nicht mehr, sie legte sich wieder schlafen, allein. Wir restlichen vier saßen uns im Wohnzimmer schweigsam gegenüber. Das Ticken der Uhr raubte uns den Atem. War das das Zuhause, in dem ich fünf Jahre gelebt hatte? Der große runde japanische Tisch, das Rollbild aus Bambusstäbchen, auf dem Tisch das rote Tischtuch, senkrecht in seiner Mitte die Cloisonné-Blumenvase, am Fuß des bodenlangen Vorhangs, der Wand, Tür und Fenster verdeckt, der Epiphyllum, auf dem die Blüten loderten wie grünes Feuer.
    Seit ich damals für mich beschlossen hatte zu gehen, hatte ich begonnen, die Details in der Wohnung gewissenhaft zu arrangieren: Ich kaufte einen Teppich, die Lampen machte ich sanft und geschmackvoll; überall lagen meine Collagen herum, sogar auf dem Sofa und den Kissen waren sie originell ausgebreitet. Das war ein Raum, in dem man sich an jedem Fleck hinlegen und ausruhen konnte. Er vermittelte einem die Illusion, hier sei der Hausherr immer zu Hause.
    Ich wollte, dass A Xia in dieser Umgebung auf mich wartete und unser Kind auf die Welt brachte. Was für ein süßer Betrug!
     
    Ich legte das »Requiem«-Band ein, Wu Bin nickte: »Ausgezeichnete Stimme, du Glücklicher, in China gibt es viele Dichter, aber nur du hast so eine Stimme.«
    »Wu Bin ist doch ein Augenzeuge vom 4. Juni, er soll uns mal erzählen, was wirklich los war!«, schlug Wan Xia vor.
    »Ich habe damals Liu Xia auch ein paar Worte auf Band zurückgelassen«, fing Wu Bin an, es ging ihm nahe. Als fünf Jahre später der selbst betroffene Zhou Duo bei mir in Chengdu vorbeikam, korrigierte und ergänzte er hier und da die emotionale Beschreibung Wu Bins, der Folgendes erzählte:
    »Nach Mitternacht haben sich die paar tausend Studenten, die auf dem Tiananmen übrig geblieben waren, unter dem Denkmal für die Volkshelden versammelt. Die Truppen im Ausnahmezustand haben mehrfach Bekanntmachungen verteilt, die Atmosphäre war spürbar angespannt und voller Dramatik. Die städtischen Wachmannschaften häuften alle möglichen leichten und schweren Waffen an und zielten auf die große Halle des Volkes. Die Extremisten riefen unentwegt zu bewaffnetem Widerstand auf, so etwas wie ›Wir wollen mit unserem Blut und unserem Leben die Volksmassen wachrufen und für die Zukunft Chinas den Weg zur Demokratie pflastern‹.
    Das Sinnvollste, was ich in meinem Leben je gemacht habe, war, einen klaren Kopf zu behalten in diesem selbstmörderischen Geeifer. Unter den vier Leuten, die die Situation unter Kontrolle brachten, hatten Gao Xin, Hou Dejian und ich das gleiche Gefühl und überredeten Xiaobo [21] , es kostete uns etwas Mühe – am Ende kamen wir vier überein, an Ort und Stelle den Beschluss für den Kompromiss zu verkünden. Xiaobo ging mit ein paar Leuten zu den städtischen Wachmannschaften, um sie zu entwaffnen – wenn sie sie nicht zerschlugen, nahmen sie die Gewehre herunter.
    Ich bin mit Hou Dejian mit dem Auto zu den Truppen im Ausnahmezustand gefahren, um mit ihnen die Bedingungen für ihren Abzug zu besprechen. Bei alldem sind wir ein extremes Risiko eingegangen, denn von Anfang an war die Mehrheit gegen uns, und unter ihnen fehlte es nicht an Hitzköpfen, die ganz andere Pläne hatten.
    Als wir die Kasernen erreichten, war es schon halb vier in der Früh, ein Oberst nahm uns in Empfang und erklärte, es gebe keinen Raum mehr für Verhandlungen, alle auf dem Tiananmen verbliebenen Studenten müssten ohne Bedingungen vor vier Uhr abziehen, die Truppen hätten bereits Befehl von ganz oben, zur gegebenen Zeit ohne Rücksicht auf Verluste den Platz zu »säubern«. Wir hetzten voller Entsetzen zurück, wir waren gerade an der Kommandostelle angekommen, als alle Lampen auf dem Platz ausgingen. Als die Gepanzerten in Reihen vorrückten, erklärten wir allen die Situation, die wir bei den Truppen vorgefunden hatten, aber da

Weitere Kostenlose Bücher