Für ein Lied und hundert Lieder
bleiben zwei Tage in Yichang, dann fahren wir nach Norden«, Wu Bin zählte an seinen Fingern, »am Sechzehnten sind wir in Beijing, du kannst deinen Film ja mitnehmen.«
So wurde es beschlossen, Wan Xia und ich brachten sie zum Kai. Es war herrlicher Sonnenschein, Liu Xia lachte ihr strahlendstes Lächeln, ich bemerkte den unterschwelligen Riss zwischen beiden nicht. Ein paar Monate später schrieb mir Liu Xia ins Gefängnis die schlechte Nachricht, sie hatten sich scheiden lassen. Ich weiß noch, mir waren die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, und ich hielt den Brief zwischen den stinkenden Füßen und las. Danach sprang ich vom Ofenbett, lehnte mich mit dem Kopf gegen die Gittertür, wie in stiller Trauer. Ich fing an zu schreien: »Meldung«, und ich hörte nicht auf, bis man mich rausholte. Ich ging dem Aufseher auf die Nerven, ich wolle einen Brief schreiben – und wenn ich dabei draufging, es war mir egal. Aber an diesem Tag hatte ich Glück, ich bekam nur ein paar mit dem Elektroknüppel, aber ich erreichte, was ich wollte.
Ich habe längst vergessen, was ich damals geschrieben habe, ich weiß nur noch, dass ich das Gefühl hatte, etwas Gutes zu tun. Liu Xia hat den Brief im Aufzug gelesen, dumm gelacht und geweint. Ich versprach ihr darin, ich würde eines ihrer Gedichte lesen, »Ein Vogel, wieder ein Vogel«, leider war das Gefühl, als ich den Mund aufmachte, weggeflogen. Von heute aus gesehen war das sehr naiv.
Die Freiheit ist wertvoll. Wenn man im Gefängnis ist, sind die Freunde draußen frei, sie sind die Vögel, ihr Blut ist voll von dem Odem der Flügel. Diese Schimäre machte aus mir einen törichten Menschen, ich hätte eher den Staat verraten, ich hätte eher ein Selbstbekenntnis verfasst und mich in einem Mauseloch verkrochen, als einen Freund zu verraten. Denn ich wusste in meinem Innersten, dass der Verrat an Freunden dem Herausreißen der eigenen Wurzeln gleichkommt. Als Wu Bin und Liu Xia später durch mich in die ganze Sache hineingezogen wurden, war Liu Xiaobo ausgesprochen sauer, aber Liu Xia glaubte nicht, dass ich sie verraten haben könnte.
Heute ist das alles schon in so weite Ferne gerückt, ich sitze neben meiner Schreibtischlampe, und die Nacht legt sich über das Funkeln der Erinnerung. Wu Bin hat einmal gesagt, die Erinnerung sei ein heimlicher Schmerz. Wenn ich damals mit ihnen auf das Schiff hätte gehen und den Fluss hinabfahren können, wäre vieles besser gelaufen, aber ich gab mir Mühe, witzig zu sein, als würde mir das Ganze nicht das Geringste ausmachen. Nach über zwei Stunden kam aus der Ferne die Dampfpfeife des Passagierboots herüber, dann waren sie weg, das Wasser wirbelte, es war ein Abschied für fünf Jahre.
In der darauffolgenden Nacht haben auch Wan Xia und ich uns auf den Weg gemacht. A Xia ließ ich im Ungewissen, sie war in einen dunkelblauen Qipao gehüllt, stand am Treppenaufgang und machte ihre übliche besorgte Miene, die Schwangerschaftsflecken an ihren Wangen waren jetzt deutlich zu sehen. Sie schärfte uns ein: »Seid vorsichtig!«, und stopfte mir Geld in die Tasche.
Ich wies das brüsk zurück, verließ das Haus und humpelte die Schräge des Abhangs entlang. Ich hatte nicht mehr den Mut, noch einmal zurückzuschauen, bei diesem Abschied verlor ich die Frau, das Kind, die dichterische Würde, und der letzte Rest Romantik verschwand im Nichts.
Am 9. März war ich zurück am Drehort. Wan Xia machte seinem Ruf als genialer Gaukler alle Ehre, er hatte seinen Hintern kaum irgendwohin gepflanzt, schon zog er das Manuskript des »Requiems« raus und verglich es mit der Aufnahme. Er hörte sich Abschnitt für Abschnitt an, markierte mit Rotstift die Stellen, die er nicht verstand, und ließ mich erklären. So ging es mehrere Stunden hin und her, dann streckte unser Regisseur Wan seine lahmen Lenden, stand auf und meinte: »Daraus kann man einen Film machen.«
Die erste Einstellung, die gedreht werden sollte, hatte er auf die Rückseite des Gedichtmanuskripts geschrieben; nachdem alle es gelesen hatten, wurden vielstimmig Ergänzungen vorgebracht, die unser Regisseur Wan Punkt für Punkt notierte. Zeng Lei sagte: »Es fehlen noch die Schauspielerinnen.«
»Die suchen wir uns heute abend«, sagte Li Yawei und rieb sich die Hände, »auf den Partys gibt es genug davon!«
»Und was macht ihr heute nachmittag? Wir sollten keine Zeit vertun!«, sagte Liu Taiheng.
»Zeng Lei und ich machen mit dem Bartgesicht die
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