Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Hexagramme, dass ich bittere Demütigungen erfahren werde, brennenden Durst, quälenden Hunger, der Blitz werde bei mir einschlagen, ich werde um mein Leben kämpfen, den Himmel anflehen und mein altes Ich ablegen und so weiter und so fort – ich würde gezwungen sein, den Brunnen zu reinigen und mich selbst zu retten. Wenn der Schlamm ausgehoben und die Wände des Brunnens erneuert waren und die süßen inneren Quellen nach und nach wieder sprudelten, würde ich ins Leben zurückkehren und in alle Ewigkeit vom »Überleben« schreiben, auf der Flöte Hirtenlieder spielen, würde langsam die Adern wieder freibekommen, meine Augen würden klarer und meine Kraft sehr viel größer werden.
    Ein paar Tage führten wir alle ein ziemliches Tamtam auf, und weil wir keinen Mietwagen auftreiben konnten, warfen wir den Plan, in den Shapingba-Park zu gehen, um dort am Grab der Roten Garden zu drehen, auf den Müll. Ich ließ den ursprünglichen Regisseur und die drei ihm ergebenen Schauspielerinnen zähneknirschend auf kleiner Flamme köcheln, aber es war unmöglich, noch ein paar nutzlose Leute unterzubringen – das war alles unserem Generaloberwesir Liu Taiheng zu verdanken, die Hauptrollen waren noch nicht da, also setzte er in aller Eile einen großen Haufen von »literarischen« jungen Leuten auf unsere Verpflegungsliste. Einmal bei einem Nachtgefecht machte Zeng Lei sich Sorgen, dass es keinen guten Eindruck machen würde, wenn die Truppen mit Sack und Maus bei der Militärkontrolle ein und aus gingen. Er ließ Liu Taiheng als Ersten über die Mauer klettern und ich nahm mir die Zeit und pinkelte derweil an den Fuß der Mauer. Dabei wurde mein häßliches Spielzeug vom Amt für Öffentliche Sicherheit als Beweismittel heimlich abgelichtet.
     
    An dieser Stelle meiner Aufzeichnungen unterbreche ich meine Erinnerung noch einmal – es ist schon sehr seltsam, ein Teil meines Gehirns ist vollkommen leer. Ich sitze jetzt schon drei Stunden hier dumm herum, und die Decke fängt an, sich zu drehen. Es hilft auch nichts, wenn ich die Augen schließe und Flöte spiele, das Stück Holz hilft nur vergessen, nicht erinnern. Aber Vergessen bedeutet, sich von der Bühne verabschieden, nein, es ist noch nicht Zeit für den letzten Vorhang.
    Wenn ein Einzelner sich auf ein Hazardspiel mit dem Staat einlässt, dann sind die Kräfte sehr ungleich verteilt, aber ich muss nicht unbedingt verlieren. Das Gedächtnis von Staaten hat etwas Abstraktes und Wetterwendisches. Nach den Erfordernissen der Staatsmacht werden, wenn nötig, fundamentalste historische Fakten, wenn nötig, ununterbrochen geändert, ausgetauscht und beseitigt; die Evolution wird zu einem intellektuellen Konsumartikel, natürlich entsprechend mit dem angesagtesten Etikett versehen; doch die Erinnerung des Einzelnen an seine Demütigungen dringen tief in sein Blut, sie beeinflussen instinktiv, was er sagt und wie er sich verhält – eine solche Brandmarkung wischt man sein Leben lang nicht weg.
    Ein Großteil meiner Manuskripte liegt in den Aktenschränken des Amtes für Öffentliche Sicherheit, die Spezialagenten für Kultur sind sie alle durchgegangen, Seite für Seite, und sie haben sie sich gründlicher durch den Kopf gehen lassen als der Autor selbst. Die Kerle, die diese Suppe einmal ausgelöffelt haben, entwickeln ein übermenschliches Gedächtnis: Irgendeiner dieser Abteilungsleiter aus irgendeiner Stadt hat heute noch im Kopf, welchen Satz ich in welcher Untergrundzeitschrift irgendwann in den 80er Jahren geschrieben habe. Während die Leute wehmütig damit angeben, wie sie damals in die Literaturgeschichte eingegangen sind, liegt die wirkliche Geschichte der Literatur vielleicht in den Sicherheitstresoren des Amtes für Öffentliche Sicherheit – noch ein gutes Jahrzehnt und die Beamten, die durch mich Karriere gemacht haben und reich geworden sind, werden in Pension gehen, und, wenn wir die Ideologie außen vor lassen, können wir womöglich zusammen einen trinken gehen, es muss ein besonderes Vergnügen sein, aus dem Mund eines alten Polizisten etwas über die eigenen alten Geschichten zu hören.
    »Massaker« und »Requiem« haben sich diese anderen genauer angesehen als ich selbst, sie haben sie öfter gehört, sie haben sich kompliziertere Gedanken darüber gemacht, die Konterrevolution war in der professionellen Leidenschaft der Beamten eine feste Größe.
    Den Film »Requiem« habe ich selbst nur ein einziges Mal in voller Länge gesehen, aber schon

Weitere Kostenlose Bücher