Für ein Lied und hundert Lieder
benutzen oder mit ihnen orakeln – ich fragte Qin, ob er unter Gelenkrheuma leide.
Er zeigte sich verwundert und bestätigte, dass seine Kniescheiben bei Regen weh täten.
»Das ist Knochenkrebs«, lachte ich, »zumindest besteht die Möglichkeit.«
Ich wusste auch nicht, warum ich lachte. Aber Qin nutzte die Gelegenheit, um mich zu attackieren. Er reckte sich und drehte sich in den Hüften, wedelte mit den Armen, hob das Gesicht und stellte sich in Positur wie in der Oper und stimmte ein Lied an: »Liao Yiwu, machst du deinen Eltern Ehre?«
Ich fiel aus allen Wolken und wurde kreidebleich, unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Wie eine Schildkröte. Der alte Qin sang die gleiche Arie mit dem gleichen vorwurfsvollen Text ein paarmal, er sang gut und mit Gefühl, und seinen Gesang begleitete er, indem er mit der linken Hand nach unten schnitt und aus der rechten Faust einen Finger herausstreckte und damit Bewegungen machte, als wolle er dem Delinquenten direkt den Nasenrücken einschlagen. Die Sängerpose hielt er ein paar Minuten lang durch. Der Kameramann stellte die Kamera ab und brüllte ihm ein paarmal »gut« ins Ohr. Qin erwachte wie aus einem Traum.
Ich wurde auf den Boden gestoßen.
Qin hat die einmalige Gelegenheit genutzt, um voranzukommen. Er ist langsam immer höher gestiegen und wurde in Chongqinger Polizeikreisen zu einer richtigen Berühmtheit. Er selbst bezeichnete sich als »konfuzianischen Polizisten«, was ihm unter seinesgleichen eine breite Verehrung einbrachte.
Die Waschgelegenheiten für die Gefangenen des Untersuchungsgefängnisses vom Kiefernberg waren im Untergeschoss, gegenüber den Toiletten. Gewohnheitsgemäß durften wir uns, wenn unser Zellenaufseher Nachtschicht hatte, mit heißem Wasser waschen (etwa alle zehn Tage).
Nach dem Abendessen saß das ganze Diebesgesindel brav in seinen Zellen, Doppelkreuzung reichte eigenhändig ein frisches Handtuch, frische Pantoffeln und ein Stück noch unausgepackter Lux-Seife, er stand stramm, mit dem Rücken zur Tür, und wartete darauf, unserem Herrn und Meister zu Diensten zu sein. Alle Waschutensilien waren »Einweg«. Der alte Zhao begleitete den Zellenaufseher zu den Kader-Waschräumen, wo er ihm wie ein kaiserlicher Eunuche den Rücken schrubbte und die Muskeln dehnte, ihm die alte Haut abschabte und die Zehennägel schnitt, wobei er noch eine Show abliefern und entspannt plaudern und lachen musste.
»Du wirst regelrecht eingeweicht, der Schweiß läuft dir über das Gesicht, dein Mund wird trocken, die Zunge klebt, und doch wagt man es nicht, sich die Zeit zu nehmen, um sich selbst zu waschen«, beklagte sich Doppelkreuzung nachher bitter. »Die machen einen zu einem Strichjungen in einer Finnischen Sauna, verdammte Scheiße!«
Nachdem der alte Zhao diese Privilegien genossen hat, drehte der den Spieß um, also heckte er etwas aus, machte den Schlagerstar der Zelle zum Gigolo, die Waschutensilien (einschließlich der Unterwäsche) waren alle Einweg: »Auch das Arschloch soll bluten beim ersten Dienst«, sagte er und stellte sein Geschlechtsteil zur Schau.
Die Gefangenen hatten zwei Waschräume, der nach innen gehende Raum war ein Trümmerhaufen, der kleine, nach außen gehende hatte nur eine beschränkte Anzahl von Brauseköpfen, es blieb dem Gesindel nichts anderes übrig, als vom und zum Umziehen nackt und in Gruppen über den Korridor zu laufen. Wenn nun die Schicht der Killer und Müßiggänger an der Reihe war, war ich sehr neugierig, was sich in dem mit Vorhängen verhängten Trümmerhaufen des großen Waschraums verbarg. Ich flüsterte Huang Gang beim Verlassen der Dusche zu, er solle an der Türe Schmiere stehen.
Als Huang verstanden hatte, was ich wollte, trödelte ich absichtlich etwas herum und nutzte den Wasserdampf, um in den dunklen und geheimen Raum zu schlüpfen. Das einzige Fenster war in Zwei-Mann-Höhe, ich tastete mich bis ans Fenster vor, mit geneigtem Kopf, und spähte im Abenddunst hinaus auf die Messerspitze einer steilen Felswand. Auf dieser Spitze ragte ein Wachhaus, der Wachmann war klein wie ein Nagel. Das Gitter am Fenster hatte Rostflecken, es mussten nur zwei Männer eine Spitzbubenleiter stellen, und sie konnten es mit einer Eisenstange aufstemmen. Und wenn man sich hinausgezwängt hatte, musste man ein paar Meter platt die Steilwand hinauf, dann noch über eine niedrige Mauer, und schon war man nebenan in der Facharbeiterschule.
Als hätte ich unter dem Unterkiefer eines Tigers eine
Weitere Kostenlose Bücher