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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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den Kontakt zu den Massen verloren. Und dann schreibst du noch einzigartigere Zeilen: ›Ihr Herren, da oben, ihr müsst es ertragen, das ist euer Fall.‹ Der Fall symbolisiert den Tod, Maxim Gorki hat es in seinem ›Lied des Sturmvogels‹ genauso gemacht. Habe ich das richtig verstanden?«
    »Ich will schlafen!«
    »Dichter sind alle Nachteulen«, Qin war so gnädig wie eine Bärenmutter, die die halbe Nacht an der Tür klopft, »iss etwas für die Nacht, es ist nicht sicher, dass du jemals wieder so viel Lust zum Gedichteschreiben haben wirst.«
     
    Mit dieser Zermürbungstaktik ging es über einen Monat weiter, am Anfang war ich noch relativ wach und auf der Hut, später war alles ein Topf mit Kleister. Wieder und wieder erklärte ich in allen Einzelheiten die gleichen Dinge, die gleichen Einzelheiten. Das Verhörpersonal wechselte turnusmäßig wie das Drehen einer Traumlampe. Wenn ich die Augen nur einen Spalt weit öffnete, wurden sie kleiner. Ich rollte mich in eine imaginäre Wiege ein, eine ungeduldige Amme schaukelte mich und redete mir gut zu. Das Licht stach mir in die Augen wie Dolche, mein Kopf war nicht mehr mein, es war vollkommen leer da drin, die schwarze Höhle meines Bewusstseins war voll von all den Bildern, die es geschluckt hatte. Ich hätte gerne das Licht abgeschirmt, aber ich konnte die Hand nicht heben.
    Die elektrische Lampe, das Oberlicht, ich reckte den Hals, um das Gras am Himmel zu fressen, die Muschelschalen in den Grasbüscheln, die kühleren Sterne, die heißere Sonne. Bald schmerzte mein Hals, ich klebte an der feuchten Wand, eine Scheiß-Wand, mindestens ein paar hundert Jahre alt.
    Ich schwor, dass ich Satz für Satz die Wahrheit sagte, es war eine abstrakte Wahrheit, eine Wahrheit der Seele, aber der gute Qin glaubte mir nicht. Wir hatten etwas gemeinsam, wir hatten unsere an Dummheit grenzende Sturheit gemeinsam, aber was konnte dabei herauskommen, wenn zwei Menschen an zwei parallel laufenden Gedankengängen festhielten, die nichts miteinander zu tun hatten. 1990 konnte nicht 1996 werden.
    Mich, diese in der Lyrikszene nicht unbekannte dichte Löwenmähne, fraß die Zermürbungstaktik kahl. In nur etwas mehr als einem Monat war aus dem Bartgesicht der Glatzkopf Liao geworden, und später, wo ich jeden Monat einmal rasiert wurde, ist mir die Gewohnheit etwas ganz Selbstverständliches geworden.
    Im Herbst 92 kam ich in das Gefängnis zur Umerziehung durch Arbeit, in der Zeitung sah ich eine Anzeige für das »Haarwuchsmittel Zhangguang 101«, die mich völlig faszinierte. Ich schrieb einen Brief an meine Mutter und beauftragte sie, mir zwei Kuren mit insgesamt über einem Dutzend Flaschen von dieser Tinktur zu kaufen und ins Gefängnis zu schicken. Ganz nach der Beschreibung rieb ich mich jeden Morgen und Abend damit ein, immer zur gleichen Zeit, wie ein Mönch bei seinen Übungen, und massierte es mit den zur Gabel gespreizten fünf Fingern ein (dadurch sollte die Tinktur besser in die Kopfhaut einziehen). Womit ich nicht gerechnet hatte: Nach drei Monaten glänzte die Haut auf meinem Kopf noch viel mehr, selbst im Dunkeln leuchtete meine Pläte. Die Gefangenen machten Witze darüber und nannten mich »Glühbirne«, das war das wundersame Resultat von Zhangguang 101.
    Nach meiner Entlassung war mein Kopf noch sorgfältiger rasiert; um Geld zu sparen, hatte Song Yu, meine Verlobte, sich freiwillig zur Verfügung gestellt, in unregelmäßigen Abständen griff sie zum Messer, und mein vernarbter und erschöpfter Schädel hat die Katastrophe offensichtlich überlebt.
     
    Ich bewundere die Leute, die im Knast gesessen haben und von so erstaunlicher Erinnerungskraft sind, dass sie aus irgendeinem Instinkt heraus jedes Detail ihrer Verhöre plastisch schildern können, während ich mir das Gehirn zermartere und nichts zutage fördere als verstreute Bruchstücke – im Vergleich mit dem Verhörprotokoll, das auf mehrere tausend Seiten angewachsen ist, ist das ein Tropfen im Meer. Vielleicht bleibt ja, was wirklich wahr ist, für immer in den gewaltigen Gebirgen der Prozessakten verborgen. Diese Akten sind wohl kaum Geschichte, und sie haben wohl auch kaum einen Wert. Als ich ein Kind war, war ich einmal bei einem Schauspiel dabei, wo Aktenmaterial verbrannt wurde – das war in irgendeinem Kreis zu Beginn der Kulturrevolution, irgendwelche veralteten Bücher und Zeitungen, Regionalchroniken in blauem Einband und mit blauen Bändern und persönliche Aktenrollen wurden in einer

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