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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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will dich da nicht mit hineinziehen, Konterrevolution.«
     
    Ein paar Tage später wurde Huang Gang formell in die Haft überführt. Ich hörte, dass sie bei seiner Verhaftung über 20 Polizisten in Bewegung gesetzt hatten, deshalb war jetzt auch besonders großer Bahnhof. Der Stockwerkkorridor war proppenvoll, als die Zelle aufgesperrt wurde, zwängten sich ein paar Spezialagenten mit geladenen Gewehren herein; als Huang Gang das sah, brüllte er: »Keine Eile!«, und hockte sich auf den Boden, wo er, seine Pflichten bis zuletzt erfüllend, einen großen Haufen für Wucherpreise ergatterte Top-Klamotten durchsah und sie in zwei schwere Beutel stopfte. Ein Polizist trieb ihn ungeduldig an: »Dich gibt es bald nicht mehr, also was soll der Unfug?«
    Als Huang Gang das hörte, brüllte er: »Kümmer dich um deinen Dreck!«
    Ich ging zu ihm und half ihm beim Aufräumen, er schenkte mir ein paar Socken, als Andenken, damit ich ihn nicht vergesse. So verschwand der Kerl, auf Nimmerwiedersehen – er hatte die schlimmsten Verbrechen auf dem Kerbholz, aber mir wurde ganz wehmütig ums Herz. Ich hatte für ihn einmal einen langen und bedeutungsschweren Abschiedsbrief an seinen jüngeren Bruder geschrieben, der damals bereits im Strafvollzug war, bei der Umerziehung durch Arbeit.
    Die beiden waren Waisen, sie hatten als Kinder ihre Eltern verloren und waren völlig verkommen, allein in der Welt, nur ihre Großmutter gab ihnen ein bisschen Geborgenheit. Angeblich hat Huang Gang vor seiner Hinrichtung seine gesamte Hinterlassenschaft im Gefängnis seinem kleinen Bruder vermacht, er selbst soll in einem langen Winter mit ungefütterter Jacke und Hose auf den Tod gewartet haben, in der Eiseskälte wurde er krank, aber er brachte es nicht über sich, auch nur einen Pulli anzuziehen. Ich hatte ihm versprochen, wenn ich wieder draußen wäre, würde ich zu ihm nach Hause gehen und seinem kleinen Bruder ins Gewissen reden, damit er auf den rechten Weg zurückkommt, hatte bis heute aber nicht die Gelegenheit, mein Versprechen einzulösen.
    Als ich mir zum Frühlingsfest 92 im Untersuchungsgefängnis von Shibanpo ein Buch auslieh, schaute mir auf einmal aus einem Roman die Unterschrift von Huang Gang entgegen, was für ein Zufall! Mir wurde ganz anders, denn eigentlich hatte Huang nie schreiben gelernt, nicht einmal seinen eigenen Namen. Aber in diesem Buch prangte mitten auf jeder Seite sein Nachname. Die beiden Zeichen für »Huang Gang« auf dem Innentitel verdeckten sogar ganz fahrlässig den Namen des Autors. Augenscheinlich begriff selbst ein Räuber, dass Kultur eine gute Sache war, weil man durch sie unsterblich werden konnte. Womit bewiesen wäre, dass die Menschen, die auf diesem Planeten unsterblich werden wollen, nicht in der Minderheit sind.
     
    In einem auf Ideologie ausgerichteten Staat sind Kampagnen das Schmieröl des Herrschaftsmechanismus, da waren die Gefängnisse keine Ausnahme. Von Gewahrsam und Untersuchungsgefängnissen bis zum Strafvollzug mit Umerziehung durch Arbeit und Arbeits- und Umerziehungslagern, überall gab es jährlich mindestens zwei Kampagnen wie die »Kampagne für freimütige Geständnisse und Anzeigen« und die »Kampagne gegen Zellentyrannen«. Da auch die Kräfte der Polizei Grenzen haben, ist eine uralte Tradition, Verbrecher mit Verbrechern zu regieren.
    Zu Beginn der »Kampagne für freimütige Geständnisse und Anzeigen« mussten natürlich sämtliche Gefangenen in den Freigang-Innenhof hinaus und sich in Gruppen mit gekreuzten Beinen auf den Boden setzen. Um sie herum wimmelte es von bewaffneter Polizei, als hätte man einen mächtigen Feind vor sich. Bürokraten von vier Behörden (dem Sicherheitsamt, der Staatsanwaltschaft, dem Gericht, der Justizbehörde) saßen an einem Tisch und hoben in Reihenfolge ihres Rangs in der Hierarchie zu Belehrungen an: Die Oberbürokraten waren für das Makroskopisch-Abstrakte, die Unterbürokraten für das Mikroskopisch-Konkrete zuständig. Als die Schlacht eingeläutet war, roch es im Gefängnis überall nach dem Schießpulver von Parolen und Schlagworten. Das Diebesgesindel kehrte nach und nach in die Zellen zurück, die Diskussionen wurden von den jeweiligen Zellenwärtern persönlich angeleitet, die alten Zhaos verteilten Papier und Stifte, an alle. Drei Tage war es mucksmäuschenstill, alle waren im Stadium der Prüfung. Dann riefen die Zellenwärter die alten Zhaos aus den Zellen und gaben ihnen Anweisungen, heimlich: Sie sollten einander

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