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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Überlebenschance entdeckt, fing mein Herz wie wild an zu schlagen, ich legte mich, splitterfasernackt, wie ich war, auf den Boden, strampelte wie ein Verrückter wild mit den Beinen, aber ich stieß gegen keinerlei harten Gegenstand. Dann wuchtete ich der Reihe nach an den Wasserrohren herum, und als ich das dritte versuchte, gab es überraschenderweise nach! Meine Hände waren längst blutverschmiert, aber ich bekam es überhaupt nicht mit; meine Ohren waren wie zwei Ölquellen, in ihnen war ein Geräusch, als würde sich ein Bohrkopf mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefe schrauben; die Schädeldecke schwoll an, und bald würde das Rohöl herausschießen. Ich wollte gerade meinen Sieg ausnutzen und das Eisenrohr nach unten drehen, als plötzlich das verabredete Geheimsignal zu vernehmen war.
    Zurück in der Zelle, erzählte ich Huang Gang von den Früchten meines glorreichen Sieges, unsere beiden Gesichter waren eine Weile tiefrot, wie bei Säufern, wenn sie einen Orgasmus haben. Glücklicherweise übertünchte das fahle Weiß der Neonlampe unsere Mienen. Der alte Huang rieb sich die Hände: »Du und ich, wir sind auf Leben und Tod aneinandergebunden, wenn wir Erfolg haben, dann bist du Vater und Mutter meiner Wiedergeburt.«
    »Lass das!« Schnell fügte ich zurückhaltend hinzu: »Wenn wir draußen sind, trennen sich unsere Wege.«
    »Das geht nicht, das Amt für Öffentliche Sicherheit kennt meine Zufluchtsorte wie seine Westentasche, mir bleibt nichts anderes übrig, als mit dir in deine Richtung zu gehen.«
    »Ich habe keine Richtung.«
    »Wehe, du lässt mich hängen! Denk nicht einmal daran!« Huang Gang lachte. »Ich kenne dich in- und auswendig, die große Konterrevolution, Leute wie ihr habt überall einen Unterschlupf.«
    »Du bist nicht nur ein Dieb, du bist auch ein Räuber, wenn ich mit dir gehe, dann wirst du, so du es noch nicht hast, sicher bald auch noch ein Kapitalverbrechen begehen.«
    »Ich gebe dir mein Wort, ich habe nur gestohlen, kein Raub, außerdem habe ich nie einfache Leute beklaut.«
    Huang Gang machte ein ernstes Gesicht bei diesem Schwur.
    »Du bist mein Leitstern, ganz wie der Vorsitzende Mao, ich bin ungebildet, aber als revolutionärer Leibwächter für dich tauge ich noch, verdammte Scheiße, ich würde mein Leben riskieren, um dir beim Rübermachen nach Taiwan zu helfen.«
    Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
    Eine Woche lang schmiedeten wir Pläne. Bis er eines Abends von einem Verhör zurückkam und mir wild gestikulierend erklärte: »Konterrevolution«, das war mein neuer Spitzname, »ich habe einen besonders großen Raubmord gestanden, gerade noch habe ich die ›Kampagne für freizügige Geständnisse und Anzeigen‹ am Schlafittchen gepackt, die Kampagnenbeauftragten wollen mir den Kopf retten!«
    »Wenn du drei Morde begangen hast, ziehen sie dir einen ab, bleiben immer noch zwei.«
    »Du raffst es nicht«, sagte der alte Huang und sah mich schief an, »die Regierung will Vorbilder für freimütige Geständnisse und Anzeigen, wenn man den Mund aufmacht, das bringt was!«
    Ich konnte dazu nichts sagen, verkroch mich in meine Ecke und las. Ich kam kein einziges Schriftzeichen weiter, ich spürte bloß, dass der Abgrund in mir immer größer wurde, in den ich eine einsame Feder hinabschweben sah. Verdammt, ich habe erst in diesen Tagen begriffen, dass ich nicht einmal eine Gelegenheit haben würde, mich zu erhängen.
    Am nächsten Tag hatten wir Hofgang, ich drückte mich immer noch in eine Ecke und schaute in die diesigen Berge. Man erzählte sich, tief in den Bergen sei eine weiße Villa, eine Hölle, in der die Guomindang die Mitglieder von Untergrundparteien mit Spezialmethoden grausam getötet hätten. Huang Gang schlich sich an meine Seite und raunte mir halblaut zu: »Die Leute haben auch nach dir gefragt, aber ich habe nichts gesagt.«
    »Bei mir gibt es auch nichts zu erzählen, zumindest nichts, was dir etwas bringen würde.«
    »Ich weiß, dass du für Leute wie uns nichts übrig hast. Aber ich habe an der Studentenrevolte teilgenommen, ich habe mich unter die Demonstranten gemischt, ich habe den Studenten Wasser gebracht, und am Ende bin ich als Nichtsnutz rausgeschmissen worden.«
    Mir wurde warm ums Herz.
    »Allein kommen wir nie von diesem Kiefernberg herunter.«
    »Das käme auf einen Versuch an.«
    »Ich habe mir das ein paar Abende lang durch den Kopf gehen lassen«, Huang Gangs Stimme war heiser, »meine Verbrechen sind zu schwer, ich

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