Für eine Nacht
Urteilsvermögen ist untadelig, wenn es um seine Familie geht, aber sobald sein Gefühlsleben betroffen ist, versagt es jämmerlich.«
Eric brach in schallendes Gelächter aus. »Ich liebe dich, Raina, und ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen. Wollen wir jetzt nicht mal langsam den Termin festsetzen?«
In diesem Moment ertönte ein Summer und enthob Raina einer Antwort.
»Das Abendessen ist fertig. Ich habe die Mahlzeiten aufgewärmt, die Izzy geliefert hat, und jetzt muss ich in die Küche, ehe alles anbrennt.« Eric erhob sich vom Bett. »Aber bilde dir nicht ein, ich würde vergessen, wo wir stehen geblieben sind.«
»Wie könnte ich?« Sie sah ihm nach, als er zur Schlafzimmertür hinausging. Er konnte nicht ahnen, wie dankbar sie für die Unterbrechung war. Denn Raina war fest entschlossen, Eric erst dann zu heiraten, wenn ihr ältester Sohn Sloane einen Antrag gemacht hatte.
Wo steckte sie nur? Chase hatte seine Mutter schon vor Stunden nach Hause gebracht, sie dort in Erics fähigen Händen zurückgelassen und war in der Erwartung, Sloane dort vorzufinden, zu seinem Haus zurückgefahren. Aber dort war alles still und leer gewesen. So, wie es früher gewesen war und bald wieder sein sollte.
Warum empfand er die Stille dann mit einem Mal als furchtbar bedrückend?
Weil er sich Sorgen um Sloane machte. Weil er sie bei sich haben wollte. Wütend und frustriert zugleich stampfte er mit dem Fuß auf.
Dann griff er nach seinen Autoschlüsseln und wollte das Haus verlassen – im selben Moment, wo sie so gemächlich zur Tür hereinschlenderte, als hätte sie sich gar nicht vorstellen können, dass er vor Sorge um sie fast den Verstand verloren hatte. Er wollte sie fragen, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, so lange wegzubleiben, wo sie die ganze Zeit gewesen war, aber der geistesabwesende Ausdruck auf ihrem Gesicht hielt ihn davon ab.
Er musterte sie genauer. Sein Ärger verflog, und er stieß vernehmlich den Atem aus. Er wusste, dass sie sich das Haus hatte ansehen wollen, in dem ihre Mutter aufgewachsen war, aber wenn dort irgendetwas passiert wäre, hätte sie ihn sicher angerufen. Sie hatte es ihm schließlich versprochen.
Oder hatte Raina sie nur gebeten, sich bald wieder einmal zu melden? Chase konnte sich nicht mehr genau erinnern. »Wo warst du denn?« Sein Blick ruhte eindringlich auf ihrem Gesicht, suchte nach einem Hinweis darauf, was in ihr vorging.
Sie zuckte die Achseln. »Überall und nirgends.« Dabei ließ sie die Arme herabbaumeln und starrte an ihm vorbei ins Leere.
Anscheinend wagte sie nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Du sagtest, du wolltest zum Elternhaus deiner Mutter fahren. Was ist passiert? Hat dich dieser Besuch so durcheinander gebracht?« Wider besseres Wissen legte er ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an sich.
Er spürte, wie sie darum kämpfte, die Distanz aufrechtzuerhalten,
die er im Krankenhaus zwischen ihnen aufgebaut hatte. Aber sie kam genauso wenig gegen ihre Gefühle an wie er gegen die seinen.
Sie schmiegte sich kraftlos an ihn. »Ich habe Samson gefunden«, flüsterte sie nahezu unhörbar.
»Du hast was?« Er drehte sie zu sich herum.
Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Ich habe... meinen Vater gefunden. Meinen leiblichen Vater.«
Ihre Stimme brach, und mit ihr sein Herz.
»Ich bin in den Hinterhof der McKeevers gegangen, zu dem alten Baumhaus ...« Sie schluckte. »Auf einmal war er da. Als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht.«
Das war typisch für Samson, dachte Chase. Er kam und ging, wie es ihm beliebte, tauchte plötzlich da auf, wo man ihn am wenigsten vermutete, und verschwand genauso schnell wieder. Aber nach der Explosion und seinem darauf folgenden Katz-und-Maus-Spiel konnte es kein Zufall sein, dass Sloane ihm gerade heute begegnet war. Er musste es auf ein Zusammentreffen angelegt haben. Falls nicht, hatte er vielleicht das Baumhaus aus ähnlichen Gründen aufgesucht wie Sloane – weil er hoffte, dort Ruhe und Frieden zu finden. Chase hätte gerne gewusst, ob einer der beiden dort Antworten auf seine Fragen erhalten hatte.
»Jetzt weißt du, wo ich war. Bist du nun zufrieden?« Sie löste sich von ihm und straffte die Schultern.
Ihre Körpersprache verriet ihm deutlich, dass sie ihn nicht länger brauchte. Doch Chase kannte sie besser, als sie dachte. Er sah in ihren Augen dasselbe Verlangen brennen, das auch von ihm Besitz ergriffen hatte – nicht einfach nur körperliche
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