Für einen Kuss von Frisco
hatte sie vergessen, angesichts seines Zorns und seiner Schmerzen gelassen und neutral zu bleiben.
Und welche Schmerzen dieser Mann erduldete!
Sie schloss die Augen. Plötzlich erinnerte sie sich an die Nacht, in der sie Tasha ins Krankenhaus gebracht hatten. Sie hatte ihn auf seinem Bett sitzen sehen, überwältigt von Schmerz und Trauer, die Hände vors Gesicht geschlagen und hemmungslos weinend.
An diesem Morgen waren Alans schlimmste Befürchtungen wahr geworden. Er hatte sich und ihr gegenüber eingestanden, dass er sein altes Leben nicht wiedererlangen würde. Er würde nie wieder ein SEAL sein. Jedenfalls kein SEAL im aktiven Dienst. Er hatte der harten Realität ins Auge gesehen, seine Träume waren geplatzt, sein letztes bisschen Hoffnung erloschen.
Mia wusste, dass Alan sie nicht liebte. Aber zweifellos brauchte er sie, jetzt mehr denn je.
Und sie hatte sich von seinen zornigen Worten verletzen lassen.
War fortgelaufen.
Hatte ihn alleingelassen in der Stunde seiner größten Not. Allein mit einem fünfjährigen Kind und etlichen Dutzend Flaschen Whiskey.
Mia ließ den Motor ihres Wagens wieder an und drehte um.
Frisco starrte auf die Flasche und das Glas, das er sich eingeschenkt hatte.
Die Flüssigkeit hatte eine verlockende Bernsteinfarbe und duftete wunderbar vertraut.
Er musste das Glas nur in die Hand nehmen, und der Nachmittag war gelaufen. Vielleicht sogar sein ganzes Leben. Er würde alles vergessen, was er nicht war und nicht sein konnte. Und wenn er wieder aufwachte, benebelt und verkatert, wenn er damit konfrontiert wurde, was aus ihm geworden war – tja, dann würde er eben wieder einen Drink nehmen. Und noch einen und noch einen, bis ihn erneut seliges Vergessen umfing.
Er brauchte nichts weiter zu tun, als das Glas zu nehmen, um seine familiäre Bestimmung zu erfüllen. Dann wäre er wieder Teil der nichtsnutzigen Francisco-Brut. „Kein Wunder – die Jungs kennen ja nichts anderes“, hörte er wieder die Nachbarn reden. „Was soll schon aus ihnen werden? Mit einem Vater, der sich zu Tode säuft.“
So sah jetzt also auch seine Zukunft aus: Voller Wut. Alkohol.
Einsamkeit.
Mias Gesicht trat ihm vor Augen, ihre wunderschönen haselnussbraunen Augen, ihr lustiges Lächeln. Der Schmerz auf ihrem Gesicht, als sie zur Tür hinausging.
Er stützte sich schwer auf die Arbeitsplatte und versuchte, das Bild zu verdrängen. Versuchte, nicht zu begehren, was er – wie er sehr wohl wusste – nicht haben konnte.
Als er aufblickte, waren da das Glas und die Flasche. Standen genau vor seiner Nase.
Warum sollte er gegen sein Schicksal aufbegehren? Das brachte nichts. Niemand entkam seinem Schicksal. Sein Weg war von Anfang an vorherbestimmt gewesen. Er war für begrenzte Zeit davon abgewichen, als er zur Navy gegangen war, aber jetzt stand er wieder am Ausgangspunkt. Wieder da, wohin er gehörte.
Immerhin hatte er so viel Anstand besessen, dass ihm klar war: Mia hatte es nicht verdient, ihr Leben in seiner Hölle zu verbringen. Wenigstens in diesem Punkt unterschied er sich von seinem Alten.
Mein Gott, wie sehr er Mia liebte! Der Schmerz wühlte in seinen Eingeweiden, in seiner Brust, stieg ihm gallebitter in die Kehle.
Er griff nach dem Glas, um den Geschmack hinunterzuspülen. Er wollte sie nicht mögen, nicht brauchen, nichts für sie empfinden. Gar nichts mehr fühlen.
Ich dachte, du bist ein SEAL. Ich dachte, du gibst niemals auf.
Mia hätte genauso gut neben ihm stehen können, so deutlich klangen die Worte ihm in den Ohren.
„Ich bin kein SEAL mehr“, antwortete er.
Du bist ein Navy SEAL ! Du wirst immer ein SEAL sein. Du warst schon mit elf Jahren einer, und du wirst noch ein SEAL sein, wenn du stirbst.
Das Problem war nur: Er war schon längst gestorben. Er war vor fünf Jahren gestorben. Er war nur zu starrsinnig und zu dumm gewesen, um das gleich zu begreifen. Er hatte sein Leben verloren, als er seine Zukunft verlor. Und jetzt hatte er Mia verloren.
Ich habe es so gewollt, erinnerte er sich selbst. Ich habe diese Entscheidung selbst getroffen.
Du hast eine Zukunft ! Es ist nur nicht die, die du dir einmal als kleiner Junge vorgestellt hast.
Und was für eine Zukunft! Gebrochen. Zornig. Nur noch ein halber Mensch.
Ich weiß, dass du alles dafür tun wirst, um dich wieder als ganzer Mann zu fühlen. Ich weiß, dass du die richtige Wahl treffen wirst.
Die richtige Wahl. Welche Wahl blieb ihm denn jetzt noch?
Den Whiskey im Glas zu trinken. Die Flasche zu
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