Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
eintrudeln.
Bis zum Ende des Sommers würde sicher alles über die Bühne sein.
2
Muscheln
Es war verblüffend, wie leicht es war zu lügen.
Obwohl sie das genau genommen eigentlich gar nicht tat. Sie fuhr tatsächlich nach Everdene, um die Strandhütte für den Sommer herzurichten. Sie würde wirklich in Bristol zu IKEA gehen und Plastikbecher mit aufgedruckten Bildchen und neue Teppiche kaufen sowie einen Couchtisch und einen Beutel Teelichter ein paar Windlichter für draußen und Sitzsäcke. Und dann die Hütte so gründlich schrubben, dass sie glänzte, die Möbel anders gruppieren, ein paar neue Bilder aufhängen, die Schlafkojen mit neuem Stoff beziehen – alles für den ersten Schwung Feriengäste, die eine Woche später eintreffen sollten. Damit hatte sie mindestens zwei Tage Arbeit.
Sie log also eigentlich gar nicht. Wenn es hoch kam, hätte man es wohl verschleiern nennen können. Auch wenn ihr jedes Mal, wenn sie daran dachte, der Schweiß ausbrach und sie in Panik geriet. Ihr Handy hatte sie ständig in Reichweite. Sie konnte jederzeit absagen, das wusste sie. Es hing allein von ihr ab. Sie hatte die Situation vollkommen im Griff. Das Problem war nur, dass sie sich selbst nicht im Griff hatte.
Untreue im Anfangsstadium war eine seltsame Sache. In einem Moment hatte sie das Gefühl, auf Wolke sieben zu schweben, und im nächsten lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern. Sie hüpfte albern grinsend durch die Gänge des Supermarkts und sang in aller Öffentlichkeit vor sich hin, nur um, zu Hause angekommen, an den Küchentisch zu sinken und eine halbe Stunde reglos zu verharren, den Kopf auf den Armen, völlig paralysiert, unfähig, zu sprechen, zu denken oder irgendwie zu funktionieren. Höllenqualen und Ekstase zugleich. Die Büchse der Pandora war noch nicht ganz offen, aber sie hatte schon ihre Finger am Deckel, bereit, ihn aufzureißen.
Wie war es dazu gekommen? Sarah war eigentlich keine Frau, die zur Untreue neigte, aber das war ja wahrscheinlich keiner, bis er auf einmal doch kurz davorstand. Niemand ließ sich schließlich auf eine Ehe ein mit dem Hintergedan ken: »Ich kann ja ins Bett gehen, mit wem ich will, sobald es langweilig wird.« Es war ihr einfach so passiert.
Es konnte sich nur um eine Midlife-Crisis handeln. Schließlich war sie schon sechsunddreißig. Ziemlich genau die Mitte des Lebens, wenn man von einer durchschnitt lichen Lebenserwartung von siebzig Jahren ausging. Ihre Kin der waren acht und sechs Jahre alt, was bedeutete, dass das Leben nun viel, viel einfacher war: Sie gingen zur Schule, brauchten nicht mehr so viel Eiapopeia, konnten sich allein den Schlafanzug anziehen, die Zähne putzen, sich selbst den Po abwischen. Sarahs Alltag war also nicht mehr geprägt von Schlafmangel, Buggys, Töpfchen, beschmierten Möbeln und krümelübersäten Teppichen. Sie hatte einen angenehm geregelten Tagesablauf, und sie war gut genug organisiert, um alles im Griff zu behalten. In der Regel überprüfte sie die Rechtschreibübungen der Kinder, dachte daran, ihnen ihr Schwimmzeug und die selbst gebackenen Plätzchen für das Schulfrühstück einzupacken, und sie bekam auch keinen Nervenzusammenbruch, wenn sie mal irgendetwas vergessen hatte. Vielleicht hatte sie also einfach nur zu viel Zeit zur Verfügung.
Was sie und Ian betraf, hätte sie, wenn jemand gefragt hätte, sicherlich geantwortet, dass sie im Prinzip ziemlich glücklich waren. Sie musste an ihre Anfangszeit denken, als sie das kleine Haus in Harbourne gekauft hatten, einer angesagten Gegend in Birmingham mit dichtem Straßengewirr, wo lauter ähnlich hoffnungsvolle Paare wohnten. Sie hatten alles selbst renoviert, an den Wochenenden Fußböden und Scheuerleisten abgeschliffen, den Originalzustand des alten Häuschens wiederhergestellt, dem Sarah mit ein paar durchdachten Farbeffekten einen modernen Anstrich verliehen hatte, sodass sie, als sie es verkaufen mussten, weil der Platz für ihre mittlerweile vierköpfige Familie nicht mehr ausreichte, einen lächerlich hohen Preis für ein Reihenhaus mit nur zwei Zimmern erzielten.
Es war Ian gewesen, der darauf gedrungen hatte, nach Hagley zu ziehen, ein Dorf unweit der Stadtgrenze – die Schulen seien dort besser, und die Mädchen bräuchten frische Luft und die Nähe zur Natur, meinte er. Der Umzug fiel zeitlich zusammen mit Ians Einstieg in eine große Firma in Birmingham, eine ganz andere Dimension als der Familienbetrieb, in dem er bis dahin
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