Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
einem Taxi und stieg ein, dankbar, Schutz vor dem gleißenden Licht zu finden. Sie war froh, als sie endlich Paddington erreichten, den vertrauten Trubel des Bahnhofs. Sie setzte sich in den Zug und schloss die Augen, während die anderen Passagiere einstiegen, um Sitzplätze kämpften und ihre Taschen und Laptopkoffer in den unzureichenden Gepäckablagen verstauten.
Um sich herum hörte sie Leute, die zu Hause anriefen, um Bescheid zu sagen, wann ihr Zug ankam und um welche Uhrzeit sie zum Abendessen erscheinen würden. Niemand rief sie an. Niemand erwartete sie am Bahnhof, es gab niemanden, der sie mit einem Kuss empfing, dem sie erzählen konnte, was sie erlebt hatte. Niemand, der für das Abendessen eingekauft hatte. Sie würde sich mit einem Taxi und einem leeren Kühlschrank begnügen müssen. Sie hätte im Bahnhofssupermarkt ein paar Sachen kaufen sollen. Eine leichte Verstimmung beschlich sie, doch sie schüttelte sie ab.
Nicht nachdenken. Sie würde sich nicht fragen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie ihn nie kennengelernt hätte. Das Glück, das sie vielleicht gefunden hätte. Sie hatte nur Bruchstücke, die von ihrem Leben übrig geblieben waren, und sie hatte versucht, das Beste daraus zu machen. Terence und Graham war es gelungen, ihr Leben zu zerstören. Aber sie hatte ihre Kinder und Enkel, und die Liebe zu ih nen war stets unantastbar gewesen. Dieser Sommer würde ihr Sommer werden.
Endlich hielt der Zug am Bahnhof von Everdene. Jane nahm sich ein Taxi, das sie ans Ende des Strands brachte. Sie stieg aus, müde von der Fahrt, aber wie jedes Mal aufs Neue begeistert von der Aussicht und der frischen Meeresbrise.
Sie atmete tief ein und stapfte durch den Sand zu ihrer Hütte.
Drinnen war es beruhigend vertraut. Das kleine Strandhäuschen hatte sich kaum verändert, seit ihr Vater es gekauft hatte. Einzig die Vorhänge waren neu – marineblau und weiß –, ebenso der Herd und der Kühlschrank. Es roch auch genau wie früher, ein bisschen feucht, ein bisschen streng. Es gab sogar noch dieselben Brettspiele und Bücher, dieselben angeschlagenen Tassen und Teller.
Die Kühlschranktür war geschlossen, und sie öffnete sie in der Annahme, Schimmel im Innern zu finden. Überrascht stellte sie jedoch fest, dass er eingeschaltet und mit Milch, Käse, Eiern und Speck gefüllt war. Als sie sich weiter umsah, fand sie im Küchenschrank einen Laib Brot, eine Schachtel mit Tee und ein Päckchen mit Schokoladenkeksen.
Das konnte nur Roy gewesen sein. Er hatte als Einziger einen Schlüssel.
Sie spürte ein warmes Gefühl in sich aufsteigen, so als hätte sie ein Streichholz an die Sparflamme des kleinen Herds gehalten. Wie schön, wenn jemand an einen dachte!
Während sie ihre Sachen auspackte, freute sie sich auf die vor ihr liegenden Wochen. Es würde eng werden in der kleinen Hütte, wenn all ihre Kinder und Enkelkinder herkamen, ein komplizierter Zeitplan des Kommens und Gehens, der abhing von der Arbeit, der Schule, der Uni, den Examensergebnissen, den Ferien im Ausland und irgendwelchen Festen. Doch sie würde sich keine Mühe geben, das alles im Kopf zu behalten; das hatte sie nie gemacht. Sie würde jeden Tag so nehmen, wie er kam. Kochen für die, die da waren. Und sich ansonsten an ihre verrückten Pläne anpassen.
An diesem Wochenende würden sie alle da sein – zur Eröffnung der Saison. Und sie würde es ihnen sagen müssen. Es würde ihr das Herz brechen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte die laufenden Kosten des Strandhäuschens einfach nicht mehr aufbringen, und sie wusste auch, dass keins ihrer Kinder es sich leisten konnte, ihr die Hütte abzukaufen – sie hatten alle längst ihre eigenen finanziellen Ver pflichtungen. Letzten Endes war es wahrscheinlich das Beste, einen klaren Schlussstrich zu ziehen. Sie würde jedem von ihnen einen kleinen Betrag von der Verkaufssumme abgeben, als Ferienzuschuss. Das schien nur ein schwacher Trost, aber unter den derzeitigen Umständen war einfach nicht mehr drin.
Am späten Abend setzte sie sich hin, um eine Anzeige zu formulieren. Sie würde ihren Enkel Harry bitten, sie mit seinem Laptop abzutippen und zu speichern und dann in der Stadt ausdrucken zu lassen. Weiter würde sie keinen großen Aufwand betreiben müssen, allenfalls ein paar Kopien unter den Türen der anderen Strandhütten durchschieben und ein paar im Dorf aushängen. Es würde sich schnell herumsprechen, und die Angebote würden ganz von allein
Weitere Kostenlose Bücher