Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
Sonne war inzwischen untergegangen, und die kühle Nachtluft ließ sie frösteln. Jane spürte, dass er ihr nachschaute, enttäuscht und verwirrt.
Sie schlüpfte ins Haus, kletterte in das obere Etagenbett und zog sich die Decke über den Kopf. Nur im Schlaf fand sie ihren Frieden. Jane schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, der sie von den quälenden Gedanken und der Verwirrung befreite, die die Bowle nur noch verschlimmert hatte. Als ihre Eltern mit Robert und Elsie nach Hause kamen, schlief sie bereits tief und fest.
In der Woche darauf kaufte Jane eine Tageszeitung und bewarb sich um drei Stellen in London. Sie wurde postwendend zu zwei Vorstellungsgesprächen eingeladen. Sie nahm den Zug nach Paddington, und bis zum Abend hatte sie eine Stelle als persönliche Assistentin des Geschäftsführers eines Autohauses in Mayfair. Acht Pfund die Woche.
Sie fand das Manuskript beim Ausmisten, als sie ihr Haus für den Verkauf leer räumte.
Ihr blieb fast das Herz stehen. Dann begann es noch schlimmer zu rasen als in dem Moment, als die Polizei bei ihr geklingelt und ihr die Nachricht von Grahams Tod überbracht hatte.
Sie setzte sich an den Tisch, um das Manuskript zu lesen. Die schwarzen Buchstaben auf den vergilbten Seiten waren ihr so vertraut, als hätte sie sie erst gestern getippt. Sie hatte das Gefühl, das ganze Buch von Anfang bis Ende auswendig aufsagen zu können, obwohl sie es über all die Jahre im hintersten Winkel ihres Bewusstseins vergraben hatte. Fünfzig Jahre lang.
Von Terence war nichts außer ihrer Liebe zur Literatur zurückgeblieben. Lesend hatte sie ihre erbärmliche, lieblose Ehe überstanden mit einem Mann, den sie für so anständig und ehrlich gehalten hatte, dass er ihr als Lebensgefährte geeignet schien, der sich jedoch als etwas ganz anderes entpuppt hatte. Das Lesen und die Kinder hatten ihr darüber hinweggeholfen – ihren Kindern hatte sie all ihre Liebe gegeben, zwar eine andere Zuneigung als die, die ihr verweigert wurde, aber dennoch eine tiefe und befriedigende Liebe.
Die Sommer waren stets das Beste gewesen. Ihre Mutter hatte ihr die Strandhütte hinterlassen, und sie hatte jedes Jahr den Juli und den August mit den Kindern dort verbracht. Hin und wieder, wenn ihm der Sinn danach stand, hatte Graham sie für einige Tage besucht. Es war ihr ziemlich egal gewesen, ob er nun kam oder nicht, aber eigentlich war es ihr lieber, wenn er in London blieb. Und während die Kinder am Strand spielten, las sie. Sie hatte sich jedes Mal einen ganzen Koffer mit Lesestoff mitgebracht, Bücher aus Bibliotheken oder von Freunden, Bücher, die sie in Antiquariaten gekauft oder aufgrund einer interessanten Kritik bestellt hatte. Jedes Jahr arbeitete sie sich außerdem durch die Empfehlungsliste für den Booker Prize, der wichtigsten Literaturauszeichnung des Landes. Vor zehn Jahren hatte sie einen Lesezirkel gegründet, der immer noch existierte, und die anderen Frauen waren verblüfft gewesen über die Bandbreite dessen, was sie über die Jahre gelesen hatte. Dabei mochte sie Danielle Steele ebenso wie Charles Dickens, Jilly Cooper genauso wie J. M. Coetzee.
Mit Hilfe ihrer Bücher konnte sie das Loch in ihrer Seele ausfüllen. Und als sie das Manuskript noch einmal las, wusste sie, dass sie nun qualifiziert genug war, um es wirklich beurteilen zu können.
Es war ein Meisterwerk. Der Stil war lässig, die Geschichte brillant – sie konnte sich noch an den Tag erinnern, als sie dieses Wort zum ersten Mal gehört hatte. Der Roman war zeitlos, universell und in ihren Augen heute so bedeutend wie damals.
Sie legte die letzte Seite weg. Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt so weit war. Es wäre ein Fehler, der Welt dieses Werk noch länger vorzuenthalten. Fünfzig Jahre waren genug. Sie hatte ihre Rache gehabt. Jetzt, wo Graham tot war, war sie bereit, den nächsten Abschnitt ihres Lebens in Angriff zu nehmen. Den letzten. Sie wusste nicht, wie viele Jahre ihr noch blieben, doch diese wollte sie in Ruhe, Frieden und Würde verleben. Aber solange sich das Manuskript in ihrem Besitz befand, würde die stille Fehde immer weiterwüten.
Es war erstaunlich leicht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Eine Webseite, ein Verlag, eine E-Mail, ein Anruf von einem seiner Mitarbeiter, der einen Termin zum Lunch arrangierte. Ein Privatklub in Soho. Eine dunkelblaue Tür in einer kleinen Gasse. Sie drückte die Klingel und sagte ihren Namen in die Gegensprechanlage, dann noch einmal an der Rezeption. Eine
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