Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
währenddessen eigenartig getröstet bei dem Gedanken, dass sie es schließlich tun konnte, wann immer sie wollte.
3
Blaue Lagune
Meeresbrise. Blaue Lagune. Sex on the beach. Everdene war wahrscheinlich nicht der spektakulärste Ort der Welt, um sich zu erholen. Aber das Meer war wie eine riesige Fata Morgana – Gottes persönlicher Cocktail, und die frühabend liche Sonne hing rot wie eine dicke Maraschino-Kirsche am Horizont. Bei dem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen, während der Sechs-Uhr-Jieper langsam in ihr hochkroch.
Nicht, dass sie es normalerweise bis sechs Uhr durchhielt. Fionas persönliche Deadline hatte sich schon vor Jahren auf … na ja, sagen wir, ein Uhr eingepegelt, wenn sie Glück hatte. Aber normalerweise ging es schon kurz nach zwölf los. Nie früher, darauf war sie stolz, denn sie wollte wenigstens die Vormittage nüchtern verbringen, um die alltäglichen Aufgaben zu erledigen und immerhin so zu tun, als hätte sie ihr Leben im Griff. Papierkram, Einkäufe, Anrufe, Friseurtermine.
Richtig nüchtern war Fiona eigentlich nie. Wenn man jeden Tag mehr als zwei Flaschen Wein leerte, hatte man immer Alkohol im Blut. Aber um den Mittag herum machte sich die Realität wieder bemerkbar, und dann war es höchste Zeit, sich den goldenen Umhang überzuziehen. Er ließ sie nie im Stich, hüllte sie zärtlich in sein weiches Tuch und ließ sie ihre Sorgen vergessen. Obwohl die meisten Leute wahrscheinlich fragen würden, welche Sorgen denn?
Wirklich, Fiona! Was für Sorgen? Sie besaß eine Villa im vornehmen Wimbledon Village, hatte einen liebenswürdigen Ehemann, der sehr gut verdiente, und zwei wunderbare, intelligente, fröhliche Kinder. Und, na ja, vielleicht hatte sie keine Traumfigur (flüssige Marsriegel zu schlürfen hätte vermutlich das Gleiche bewirkt wie all der Pinot Grigio), aber niemand würde je leugnen, dass Fiona McClintock ausneh mend hübsch war mit ihren blonden Locken und den blauen Augen, und eigentlich waren Kurven und Dekolleté doch auch viel attraktiver als die fitnessgestählten Muskeln, die bei den Frauen in Wimbledon Village gerade angesagt waren. Fiona war wie geschaffen für die femininen Wickelkleider, die im Moment in Mode waren, und sie hatte reichlich davon in ihrem Kleiderschrank für ihre zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Tja, auf dem Papier hatte sie anscheinend wirklich alles. Bis auf einen Beruf vielleicht, den sie allerdings nie gewollt hatte. Sie hatte immer eine Vollzeitmutter sein wollen und hatte nie einen Grund gesehen, sich für diese Entschei dung zu rechtfertigen. Und in der Regel merkten die meisten auch ziemlich schnell, dass es zwecklos war, ihr mit irgend welchen feministischen Vorhaltungen zu kommen. Fiona war auf der Welt, um sich über Blumenarrangements und Canapés Gedanken zu machen und um sich zu überlegen, was sie sich als Nächstes aus einem ihrer schicken Versandkataloge bestellen sollte.
Und sie war umtriebig. Sie war die unumstrittene Königin des gesellschaftlichen Lebens, organisierte Dinnerabende, Soireen, Kaffeekränzchen, Halloween-, Mittsommernachts- und Valentinstagspartys. Ihr war alles recht, Hauptsache, sie konnte sich ihre Ration in Gesellschaft anderer zuführen und musste sich nicht wie eine Alkoholikerin fühlen, auch wenn sie tief in ihrem Inneren wusste, dass sie eine war.
Eigentlich war ihr klar, dass alle längst über sie im Bilde waren. Sie wusste, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, dass die Leute Blicke tauschten und sich mit dem Ellbogen anstießen. Aber keiner hatte den Mumm, es offen und ehrlich auszusprechen: Fiona, du bist Alkoholikerin und brauchst Hilfe.
Und so machte sie fröhlich weiter. Es klappte ja auch alles. Sie scheute keine Mühe, die Kinder tadellos aussehen zu lassen, das Haus tipptopp in Ordnung zu halten, die beste aller Mütter auf dem Spielplatz zu sein. Der Schulleiter rief sie an, um Schulhoffragen mit ihr zu besprechen (sie war Eltern sprecherin, und in dieser Funktion hatte sie als Erstes dafür gesorgt, dass bei den langweiligen, endlosen Versammlungen auch Wein angeboten wurde – und alle waren sich darin einig, dass dadurch das obligatorische Gemaule und die Sticheleien besser auszuhalten waren). Der Pfarrer ließ sich keine ihrer Fleischpastetchen entgehen, die sie stets nach dem letzten Adventsgottesdienst zu Glühwein servierte (sie leitete die jährliche Geschenkpäckchenaktion der Kirche für Kinder in Krisengebieten). Sie war Mitglied im
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