Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
Sie war aufrichtig empört. Er tat ja gerade so, als ob ihre Freunde alle Abstinenzler wären!
»Kaum jemand. Die meisten Leute sind entspannt, sind in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen und gerade zu stehen. Du schläfst ja sogar beim Dinner am Tisch ein, Herrgott noch mal!«
»Das ist ein Mal passiert! Und da war ich total müde!«
»Du warst besinnungslos! Absolut volltrunken! Wie jeden verdammten Abend.«
Er sah ihr in die Augen. Fiona wusste nicht, wohin sie den Blick wenden sollte. Sie fuhr sich durchs Haar und versuchte so zu tun, als hätte sie sich im Griff.
»Meinetwegen. Vielleicht trinke ich ein bisschen zu viel. Ist eben eine Angewohnheit. Aber ich hab das im Griff! Vielleicht sollte ich es ein bisschen reduzieren …«
»Reduzieren?«, wiederholte Tim sarkastisch. »Auf was denn? Auf eine Flasche pro Tag?«
Fiona sah ihn argwöhnisch an.
»Glaubst du etwa, ich wüsste nicht Bescheid? Denkst du, du könntest mir weismachen, dass die halbe Flasche Wein, die du abends aus dem Kühlschrank holst, dieselbe ist, die du am Abend vorher reingestellt hast? Ich weiß, dass es eine neue ist und dass du den Rest mal eben zwischendurch …!«
Sie richtete sich auf und begegnete seinem vorwurfsvollen Blick, bereit, sich zu verteidigen. »Und warum sagst du dann nichts, wenn du das alles weißt?«
»Fiona, das tue ich doch! Ich habe immer etwas gesagt. Du willst es nur nicht hören. Du willst nichts davon wissen. Und ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum.« Er breitete ratlos die Arme aus. »Du hast doch alles.«
Sie senkte den Blick. »Ich weiß.«
»Wo liegt dann das Problem? Bist du unglücklich? Gefällt es dir nicht, mit mir verheiratet zu sein?«
»Nein, das ist es nicht …«
»Was dann?«
Die Tränen rollten ihr über die Wangen. »Ich weiß es nicht. Vielleicht brauche ich wirklich … Hilfe. Professionelle Hilfe.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich einen Haufen Geld für eine teure Entzugsklinik hinblättere, oder?«, fauchte er. »Reiß dich gefälligst zusammen!«
»Das tu ich ja. Ich werde …« Sie spürte, wie ihr der Rotz aus der Nase lief. Er verzog angewidert das Gesicht, als sie ihn mit dem Handrücken abwischte.
»Weißt du was, mach einfach, dass du wegkommst. Ich ertrage es im Moment nicht, mit dir unter einem Dach zu leben.«
»Du schmeißt mich raus?!«
»Wir brauchen beide Zeit zum Nachdenken.«
»Und was ist mit den Kindern?«
»Was soll mit ihnen sein? Ich bringe sie zur Schule, was du ja offensichtlich nicht kannst. Und ich bin durchaus in der Lage, ihnen was zum Abendessen zu kochen. Schreib mir einfach auf, welche Termine sie am Wochenende haben.«
»Ist das dein voller Ernst, Tim?«
»Darauf kannst du Gift nehmen!«
»Und wo soll ich hin?«
»Keine Ahnung. Am besten irgendwohin, wo es keine Minibar gibt.«
Fiona rutschte das Herz in die Hose. Verstohlen warf sie einen Blick zum Kühlschrank.
»Ein Glas trockener Weißwein gefällig, mein Herz?«, fragte Tim prompt mit sarkastischem Grinsen.
Plötzlich packte Fiona die blanke Wut. Dass er nach dem Unfall wütend auf sie war, konnte sie ja verstehen, aber wenn er die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie ein Alkoholproblem hatte, warum hatte er dann nichts dagegen unternommen? Sie straffte kampflustig die Schultern.
»Also gut! Ich fahre ein paar Tage nach Everdene. Vielleicht kriege ich ja noch mal die Kurve.«
»Ja, tu das, Fiona. Denn so, wie es im Moment um dich steht, sehe ich ehrlich gesagt keine Zukunft für uns.«
Tim und seine Brüder hatten ihr kleines Strandhaus vor zehn Jahren gekauft, um ihren Kindern die idyllischen Sommer zu ermöglichen, die sie selbst in ihrer Kindheit am Strand verlebt hatten. Leider hatte sich die Hütte mit der Zeit zu einem echten Zankapfel entwickelt, weil sie sich nie einigen konnten, wer sie wann nutzen durfte oder wer wie viel für die Instandhaltungskosten aufbringen sollte. Die Hütte hatte den ganzen Winter über leer gestanden, aber sobald das Wetter milder werden und die Ferienzeit nahen würde, würden sie sich sicher wieder in die Haare kriegen, das wusste Sarah. Bis dahin konnte sie sich aber in Ruhe dort aufhalten. Der ideale Rückzugsort für eine Frau, die Bilanz ziehen wollte. Bereits am nächsten Morgen nahm sie den Zug nach Everdene.
Während Tim die Kinder zur Schule brachte, packte sie ihren Koffer und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Tim hatte nichts von dem zurückgenommen, was er am Abend zuvor gesagt hatte; im Gegenteil, er
Weitere Kostenlose Bücher