Für immer, Deine Celia: Roman (German Edition)
beängstigender war die Tatsache, dass nichts mehr von ihrer Charakterstärke und Disziplin zu spüren war, die Bud stets für selbstverständlich gehalten hatte. »Was ist los, Gran?« Celias Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Es war eine große Erleichterung, als sich bald darauf die Familie im Haus einfand. Alle waren erschüttert über den Tod des Großvaters. Besonders hart traf es natürlich Margaret, die einen Heulkrampf nach dem anderen bekam. Doch bald war die tröstliche Ordnung wiederhergestellt. Selbst als Kind begriff Bud, dass, so unterschiedlicher Meinung ihre Mutter, ihre Tante und ihr Onkel auch sein mochten, sie sich in drohenden Krisenzeiten stets einig waren. Onkel Robert überredete die Großmutter, zu Bett zu gehen, kochte ihr sogar Tee und hielt eine Weile ihre Hand. Tante Margaret übernahm es, die Mahlzeiten zuzubereiten, denn seit sie endlich verheiratet war, lernte sie kochen. Und Sarah machte es sich zur Aufgabe, Bud zu trösten und zu beruhigen.
»Mein armer Liebling«, murmelte sie und drückte sie fest an sich. »Es muss ja schrecklich für dich gewesen sein? Warum hast du am Telefon nichts gesagt? Wir wären noch gestern Abend gekommen.«
Aber Bud kam nie der Gedanke, ihrer Mutter zu erzählen, dass bis zum Eintreffen des Briefs die Großmutter wunderbar gefasst gewesen war. Sie wusste, ohne zu verstehen, weshalb, dass dies ein Geheimnis zwischen ihnen beiden bleiben musste – wie die grenzenlose Erleichterung, die sie am Abend zuvor, nachdem der Großvater einfach tot umgefallen war, an ihr beobachtet hatte.
Sie klammerte sich an ihre Großmutter, aus Angst, auch sie könne sterben. Und als die Familie entschied, es sei Zeit, über die Begräbnismodalitäten zu sprechen, hatte sie ein wenig hysterisch darauf bestanden, bei ihr bleiben zu dürfen. Doch nichts und niemand konnte Celia aus ihrem Zustand größter Verzweiflung befreien: Sie wollte nicht einmal über Gesangbuchlieder diskutieren. Und dann war inmitten eines kalten, harten Winters das Unglaubliche geschehen: Ein seltenes Insekt hatte sich unerklärlicherweise in das Wohnzimmer verirrt und sich auf das Lieblingsbild der Großmutter gesetzt. Eine glückliche Eingebung hatte Bud dazu verleitet, zu behaupten, es sei ein von den Toten auferstandener Geist. »Alles Humbug«, hatte Onkel Robert später verächtlich geschimpft, doch sie hatten alle mitgespielt, und es hatte geholfen. Ihre Großmutter hatte sich erholt und war innerhalb von Minuten wieder sie selbst gewesen.
Erst jetzt, als Erwachsene, tastete sich Bud zu der erschreckenden Erkenntnis vor, dass die Großmutter bei der Betrachtung der Motte an alles andere, nur nicht an ihren Ehemann gedacht hatte.
32
Du fragst, wie ich aussehe. Ich habe die
verrückte Vorstellung, dass ich noch jung und
schön bin, aber ich fürchte, nur das »und«
entspricht der Wahrheit. Ich bin zu mollig geworden,
denn ich liebe Süßigkeiten, aber mein Haar
ist noch dicht, auch wenn es nicht mehr dieselbe
Farbe hat wie früher, und ich habe kräftige Füße
mit geraden Zehen und Schuhgröße 38.
TEIL EINER E-MAIL VOM 11. APRIL 1992,
VON GUY UND BUD AM 15. APRIL 2009 GEFUNDEN.
Zurück in London, zog Bud das Foto heraus und legte es auf ihren Couchtisch, wo sie es in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnung eingehend betrachten konnte – umgeben von der großen Grünlilie, die sie aus dem Mülleimer gerettet hatte, dem Kissen, einem Geschenk ihrer Großmutter mit der Aufschrift »Hör nie auf zu träumen«, dem Patschuli-Duft und zwei alten Zigarettenkippen im Aschenbecher (woraus ein Besucher schließen könnte, sie sei eine Schlampe, was jedoch nur bedeutete, dass sie die Atmosphäre eines angenehmen Abends erhalten wissen wollte). Zu ihrem Kummer erschien ihr das Foto noch abstoßender als in Parr’s.
Es zeigte einen toten Mann, aufgebahrt auf einem Bett aus Blättern und Blüten in einem offenen Sarg. Der Mann war mindestens sechzig Jahre alt, wenn nicht sogar älter. Sein Gesicht wirkte schmal und eingefallen. Dennoch hatte ihn jemand sorgsam hergerichtet. Sein langes Haar war gebürstet und sein Gesicht glatt rasiert. Am Revers seines dunklen Anzugs steckte eine weiße Blume, als sei er nicht für eine Beerdigung, sondern für eine Hochzeit angezogen.
Die Mitteilung auf der Rückseite war sachlich, aber freundlich, die Handschrift etwas unbeholfen, so als sei die englische Sprache eine fremde Welt. »Liebe Celia Bayley«, lautete sie. »Ich muss Ihnen leider
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