Für immer, Deine Celia: Roman (German Edition)
Augenblick gewartet.
9
Kehre ich in meinen Träumen in das vertraute
Haus zurück, bin ich ein Eindringling. Alles ist
wie früher – bis auf das Gästezimmer. Sollte ich einen
Lageplan zeichnen, würde ich ihn genau auf halber
Strecke zwischen den beiden Treppenaufgängen –
der eine mit Teppich, der andere ohne – anlegen.
Die Tür ist immer verschlossen, ich höre dahinter Stöhnen,
und mir wird angst und bange.
NOTIZ AUF DER RÜCKSEITE EINER SPEISEKARTE DES
RESTAURANTS COQ D’OR, STRATTON STREET,
PICCADILLY, VOM 30. JULI 1946.
»Es war ein höllischer Spaß, was?«, sagte Priscilla, und für einen Moment schien sie wieder das Mädchen zu sein, das in Schlaghose in einem kalten Garten saß und ihre geröteten Hände an einem Blechbecher mit heißem Tee wärmte, während die Wellen unten am Strand über den Kies rollten. Dann rückte sie ihre Nerzstola zurecht und berührte leicht ihren mit Brillanten geschmückten Verlobungsring. Es sah aus, als mache sie gerade eine Art Inventur. Ein Ober hielt ihr eine Flasche Wein hin, sie kostete sehr professionell einen Schluck und nickte kurz.
Bet strahlte den Ober an und versuchte, ihn angesichts von Priscillas herrischem Gehabe milder zu stimmen. Sie benimmt sich abscheulich, dachte Celia, und überlegte, was das Mittagessen kosten musste. Aber das hatte sich Priscilla selbst eingebrockt. Hatte sie jedes Gefühl für Anstand und Würde verloren? Legte sie es bewusst darauf an, jetzt nach Kriegsende deutlich zu machen, dass sie und Bet nichts mehr gemeinsam hatten?
Das ganze Szenario war grotesk. England war fast ebenso bankrott und am Boden wie Deutschland, aber sie saßen zu dritt in einem von Londons besten Restaurants, dem Coq d’Or, aßen Steaks mit Pilzen zu vier Shilling Sixpence die Portion und tranken den besten Weißwein des Hauses.
Als Celia Priscilla und Bet angerufen hatte, um zu sagen, dass sie nach England gekommen sei, um ihre Mutter zu besuchen, waren diese begeistert gewesen. Sie hatten beschlossen, sich zum Mittagessen zu treffen. Priscilla hatte Zeit und Ort bestimmt: »Ihr seid meine Gäste.« Sie waren noch außer Atem nach der Jagd vom Café Royal, wo sie Austern als ersten Gang verzehrt hatten, quer über den Piccadilly Circus zum Coq d’Or.
»Hier essen alle zwischen Tür und Angel«, versicherte Priscilla immer wieder, als entschuldige das die ungemütliche Hetze von einem Restaurant zum anderen. Und tatsächlich hatten sie auf dem Weg zum Green Park eine Gruppe ihrer Freunde getroffen, die gerade aus dem Ritz strömten. »Ist ein toller Spaß, was?«, kreischten sie, bevor sie sich in Richtung Mayfair und Claridges davonmachten. Wie Priscilla erklärte, war das eine Methode, die Vorschriften für die Rationierung von Lebensmitteln zu umgehen. Danach war es verboten, mehr als fünf Shilling pro Person und Restaurant auszugeben. »Wie sonst soll man zu einem anständigen Mittagessen kommen?«, hatte sie freimütig erklärt und nicht hingehört, als Bet protestierte und behauptete, man könne ein ausgezeichnetes Drei-Gänge-Menü für weniger als fünf Shilling im Lyons Corner House bekommen. Für jemand, der sich gerade verlobt hatte, wirkte Priscilla ausgesprochen nervös. Für ein ernsthaftes Gespräch allerdings blieb keine Zeit, denn wenn Priscilla keine Freunde begrüßte, blickte sie ständig auf die Uhr und drängte zum Aufbruch ins nächste Restaurant. Kurz darauf fanden sie sich im Café Anglais wieder, wo, wie die Freundin ihnen versichert hatte, die Crêpes einfach ›göttlich‹ seien.
Priscilla schien in diesen Spitzenrestaurants zu Hause zu sein. »Ihr hättet den Broche sehen sollen«, sagte sie und sprach das Wort seltsam guttural aus. »Das bedeutet ›Bratspieß‹ auf Französisch. Er war dort drüben. Vor dem Krieg drehten sich Dutzende von Hühnchen daran. Wir sind hier rein und haben nur zum Spaß zugesehen.« Sie lachte glockenhell. »Es war fast so amüsant wie Kino.«
»Also ich gehe nicht ins Kino, um mir tote Vögel anzugucken«, schimpfte Bet und suchte den Blickkontakt mit Celia.
Das üppige Essen blieb Celia im Hals stecken. Sie sehnte sich nach der alten, lustigen, kameradschaftlichen Atmosphäre. Was sie erlebte, schien lediglich ein Abgesang auf all das zu sein, das ihr einst teuer gewesen war.
Dann schimpfte ein Mann am Nebentisch vernehmlich und böse: »Mist! In meinem Spinat ist eine Schnecke.«
Im Restaurant wurde es bedrohlich ruhig.
Ein anderer Mann am selben Tisch schnippte mit den
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