Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
»Einige Buddhisten glauben, dass man sich für immer auf eine höhere Stufe begibt, wenn man alles gelernt hat, was es auf der Erde zu lernen gibt.«
»Eine Art Himmel?«
»Ja, so ähnlich. Ich persönlich kann mir aber nicht vorstellen, irgendwann ausgelernt zu haben.« Er fährt mit den Fingern immer wieder durch meine Haare und ein Schauer nach dem anderen läuft durch meinen Körper. Ich schließe die Augen, gebe mich ganz dem Gefühl und dem Rauschen der Wellen in der Dunkelheit hin.
Der Übergang in die Vision ist nicht so unvermittelt wie sonst. Das Erste, was ich spüre, ist das leichte Kratzen des groben Stoffes an meinem Hals und das vertraute Gefühl, als jemand sanft mit einem Kamm durch meine Haare fährt.
Ich sitze am Frisiertisch und starre mit leerem Blick aus dem kleinen Fenster hinunter auf den Innenhof. Neben dem trüben Grau des Kopfsteinpflasters, das die Gebäude untereinander verbindet, leuchtet das ungewöhnlich kräftige Grün des Rasens noch intensiver. Die Handwerksleute kann ich von hier aus nicht sehen, aber seit dem frühen Morgen höre ich ihr Hämmern und Klopfen: Sie schlagen die Nägel ins Holz, um die Stätte zu errichten.
Während der letzten Verrichtungen der Morgentoilette gibt Anna sich Mühe, ihre Gefühle zu unterdrücken, und doch höre ich, während sie mit dem silbernen Kamm durch mein Haar fährt, hinter mir gelegentlich ein leises Schluchzen.
»Anna, bitte.« Ich drehe mich zu ihr um und nehme ihre schmale Hand in meine. »Vergieß keine unnötigen Tränen. Du sollst sehen, es wird noch alles gut.«
»Sehr wohl, Lady Allison.« Sie blickt hinunter auf den kunstvoll gearbeiteten Kamm in ihrer Hand und ich sehe zwei Tränen ihre rosigen Wangen hinunterrollen. »Ich weiß, Ihr habt Euch nichts zuschulden kommen lassen, und der gerechte Gott wird es nicht zulassen. Es ist nur …« Ein heftiges Schluchzen erstickt ihre Worte und sie wendet ihr Gesicht ab.
»Du darfst den Glauben nicht verlieren«, sage ich mit fester Stimme, nicht nur, um ihr, sondern auch mir selbst neuen Mut zuzusprechen. »Das Gute wird siegen. So steht es im Buch der Gebete.« Meine Augen wandern zu dem Gebetbuch auf der Truhe am Fuße des Bettes. Die ganze Nacht über haben wir gewacht, dem Treiben unten im Hof gelauscht und Trost gesucht in den Gebeten des einzigen Buches, das mir in den endlosen vergangenen Monaten Gesellschaft leisten durfte. Ich richte den Blick nach oben, doch weiß ich nicht, was ich erwarte, dort zu sehen, außer den schweren Deckenbalken und den vereinzelten Spinnweben in den Zimmerecken. Bisher ist Gott nicht erschienen, um rettend einzugreifen. Dennoch glaube ich fest daran, dass er mich nicht verlassen wird.
Gerade als Anna das Band in meinen Zopf flicht, hören wir Schritte vor der schweren Tür, gefolgt von einem barschen Klopfen und dem metallischen Geräusch, als der Riegel zurückgeschoben wird. Anna schlägt die Hand vor den Mund, und alle Farbe weicht aus ihren rosigen Wangen, denn sie weiß ebenso wie ich, was das bedeutet. »Es ist so weit!«, flüstert sie mit erstickter Stimme.
Ich erhebe mich, streiche das grobe, schwarze Gewand glatt, das beinahe bis zum Boden reicht, richte mich kerzengerade auf und stehe erhobenen Hauptes, so, wie Mama es von mir erwartet hätte. Ich greife nach dem Anhänger um meinem Hals, während Anna den Verschluss in meinem Nacken löst. Das Metall ist noch warm, als ich den Anhänger in das kleine, seidene Säckchen gleiten lasse, und das erste Mal, seit dieser Albtraum begann, treten Tränen in meine Augen. Bevor die Tür sich öffnet, ergreife ich rasch noch einmal Annas Hand und spreche ihr Trost zu: »Sei tapfer, Anna. Unser Schicksal liegt in Gottes Hand.«
»Hey!« Griffons Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. »Alles okay?«
Ich nicke ein wenig abwesend, während die Bilder in meinem Kopf beginnen zu verblassen. »Alles in Ordnung.«
»Wo warst du?«, fragt er sanft. »Hast du Veronique gesehen?«
»Nein, es war etwas anderes. Ich war wieder im Tower …« Ich versuche, die Bilder der Vision mit dem abzugleichen, was ich bei meinem Besuch dort gesehen habe. »Ich war in einem der Gebäude und sah hinaus in den Hof. Ich … Ich glaube, es war unmittelbar vor meiner Hinrichtung.« Mein Herz hämmert wild, als sich Teile des Puzzles in meinen Kopf zu einem klareren Bild zusammenfügen. »Sie hat mich Lady Allison genannt.«
»Wer?«, fragt Griffon.
»Das Mädchen, das bei mir war. Sie hat mein Haar gekämmt und
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