Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
Ich kann nicht weitersprechen, denn bei der Erinnerung daran brechen die Gefühle wieder über mich herein.
»Und das ist genau dort passiert, wo die Hinrichtungen auch tatsächlich stattfanden«, sagt Griffon.
Ich nicke. »Ich sage mir immer wieder, dass es eine logische Erklärung gibt. Dass es vielleicht nur ein verrückter Traum ist. Verrücktwerden erscheint mir immer noch logischer als …« Ich weiß nicht weiter – als was?
»Es gab noch andere Visionen, stimmt’s?«
»Ja«, antworte ich zögerlich. »Zuerst waren es nur eigenartige Gefühle, aber jetzt hab ich immer häufiger richtige Visionen. Heute in der Mittagspause … hab ich einen Jungen gesehen, der seiner Mutter beim Kochen zuschaute. Ein indischer Junge. Eigentlich wollte ich nur etwas vom Essen einer Freundin probieren … und plötzlich war ich an einem anderen Ort. Das ist schon öfter passiert – ein Mal befand ich mich in einem Konzertsaal und ein anderes Mal an einem Fähranleger.«
Griffon sagt nichts, aber er rückt noch ein Stück näher an mich heran. Ich würde ihn gerne berühren, doch ich tue es nicht, denn ich fühle, dass ich kurz davor bin, etwas Wichtiges zu begreifen. Etwas, vor dem ich eigentlich lieber davonlaufen würde, aber trotzdem will ich nicht, dass er aufhört zu sprechen. Jetzt will ich alles hören.
»Denk noch mal nach«, sagt er. »Erinnere dich an die Visionen. Es war nicht so, als hättest du diesen Jungen und seine Mutter nur gesehen , stimmt’s? Oder die junge Frau, die aufs Schafott geführt wurde … Du hast nicht bloß zugesehen , hab ich recht? Es war mehr, das hast du selbst gesagt …«
Mit einem Mal ist mir klar, worauf er hinauswill, obwohl sich alles in mir gegen den Gedanken sträubt. Er hat recht. Es ist nicht wie ein Film, den ich mir anschaue. Es ist wie ein Film, in dem ich selbst mitspiele.
»Wo warst du , als diese Dinge geschahen?«, drängt er weiter.
Ich kneife die Augen fest zusammen. Ich weiß, dass es einen Sinn ergibt, aber ich kann es nicht zulassen, denn wenn ich es zulasse, wird alles anders sein. Dann hat nichts, was ich über das Leben zu wissen glaubte, mehr Bestand.
»Komm schon, Cole«, sagt er.
Und dann sprudelt es aus mir heraus: » Ich bin die junge Frau auf dem Schafott … und auch all die anderen. Die Dinge, die ich sehe, geschehen mit mir , nicht mit anderen.« Ich öffne die Augen. Griffon betrachtet mich mit einem traurigen Lächeln.
»Ja, das stimmt«, sagt er wie zu einem Kind, das ein neues Wort endlich richtig ausgesprochen hat. »Das alles bist du .« Er macht eine kleine Pause, ehe er fortfährt. »Die Dinge, die du siehst, sind dir selbst passiert. Manchmal sind es wichtige Augenblicke aus einem bestimmten Leben, manchmal ganz alltägliche Begebenheiten, die durch einen Ort oder einen Geruch ausgelöst werden.«
Ich spüre, dass die Wahrheit zum Greifen nah ist, doch ich kann sie noch nicht ganz verstehen. Alle Puzzleteile liegen vor mir und warten nur darauf, dass ich sie zusammensetze. »Aber wo kommt das alles plötzlich her? Früher war es doch auch nicht da. Warum passiert es gerade jetzt?«
Eine Haarsträhne fällt mir ins Gesicht. Griffon hat schon seine Hand ausgestreckt, um sie mir hinters Ohr zu streichen, aber im letzten Moment zieht er sie wieder zurück. Er stockt, und ich merke, dass ich in Erwartung seiner Berührung den Atem angehalten habe. »Weil«, sagt er und verschränkt die Hände um seine Knie, »du jetzt anfängst, dich zu erinnern.«
Ich sitze dort auf dem Felsen und schaue hinüber zu den Kindern, die auf der Rutsche den Hügel hinabsausen. Genauso fühlt es sich an. Alles, was ich bisher für wahr hielt, rauscht unaufhaltsam davon, und ich kann nur zusehen. Griffon beobachtet mich, während ich versuche, das alles zu verarbeiten.
»Woran erinnere ich mich?«, frage ich schließlich, immer noch unsicher, ob ich die Antwort darauf wirklich hören will.
»An andere Leben. Deine anderen Leben.«
Es ist, als hätte mir jemand so fest gegen den Brustkorb geschlagen, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ich sitze da und ringe nach Atem. Meine anderen Leben . »Wiedergeburt?«, hauche ich. Die Worte wollen kaum über meine Lippen kommen.
»Ja, genau«, sagt Griffon. »Wiedergeburt. Frühere Leben. Dass du beginnst, dich daran zu erinnern, bedeutet, dass du dabei bist, eine von uns zu werden.«
Ich schaue in sein Gesicht, suche Hinweise dafür, dass er lügt. Ich hoffe auf ein Lidzucken oder einen verstohlenen Seitenblick, der
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