Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
nachzudenken, vertreibe ich das Gefühl. Auch Rayne schweigt, und nur unser Atem ist zu hören, als wir die steile Straße hinaufsteigen. Kaum sind wir oben angelangt, da sehe ich es, so deutlich, als wäre es mit grellen Leuchtbuchstaben beschriftet. Ich wusste zwar nicht, wonach ich suche, aber jetzt bin ich ganz sicher, dass ich es gefunden habe.
»Das Fairmont Hotel?«, fragt Rayne und schaut auf die Flaggen aus aller Welt, die über dem Eingang des imposanten alten Gebäudes im Wind flattern. »Der Freund meiner Mom hat hier mal übernachtet.«
»Nein«, antworte ich und schaue links davon auf die andere Straßenseite hinüber. »Das da.«
»Und was ist das?«, fragt Rayne. Wir mischen uns unter die Menge, die über die Straße hastet, während das kleine Leuchtmännchen an der Ampel uns vorzählt, wie viele Sekunden dafür noch bleiben.
»Keine Ahnung«, antworte ich. Ich bin aufgeregt, aber gleichzeitig ganz ruhig. Das ist der Ort, ich weiß es genau. Je länger ich auf die steinerne Treppe starre, die hinauf zu den hohen Säulen am Eingang des großen, braunen Herrenhauses führt, desto vertrauter erscheint mir das alles.
»Schick«, bemerkt Rayne neben mir. »Planst du hier eine Hochzeit, oder so?«
Ich sehe sie an. »Hör zu, falls gleich irgendetwas Seltsames mit mir geschieht, bleib einfach ganz ruhig, okay? Mir wird nichts passieren … Ich erkläre dir alles später.«
Bevor ich Zeit habe, es mir anders zu überlegen, setze ich meinen Fuß auf die unterste Stufe und steige langsam die Treppe hinauf. Bilder von Männern mit Zylindern und Damen in rauschenden Kleidern schwirren durch meinen Kopf. Und ich höre Musik – Cellomusik. Ich erinnere mich an Kutschen, die am Fuße der Treppe vorfahren, und an elegant gekleidete Menschen, die sich dort begrüßen, bevor sie zum Herrenhaus hinaufgehen.
Ich stehe oben vor dem Eingang und schaue beunruhigt hinab auf die vornehmen Damen, die einander zur Begrüßung so innig umarmen, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Die Männer bleiben ein Stück dahinter, nicken einander nur kurz zu und tippen sich an den Hut. Der Rauch ihrer unglaublich dicken Zigarren schwebt im Licht des Spätnachmittags in großen Kringeln über ihren Köpfen.
Fasziniert starre ich auf all die feinen Kleider und dann hinunter an meinem eigenen, geborgten Kleid. Der ungewohnte Stoff kratzt an den Beinen und schon jetzt schmerzen meine Füße in den engen Schuhen. Ich habe Signor Luisotti gesagt, dass dies nicht die geeignete Kleidung ist, um Cello zu spielen, aber er hat darauf bestanden und gesagt, die äußere Erscheinung sei ebenso wichtig, wenn es darum geht, die Reichsten der Reichen in San Francisco zu beeindrucken. Wieder und wieder hat er uns das vorgebetet.
Ich stehe ein wenig abseits und sehe, wie Signor Barone die Gäste begrüßt, als sei dies sein eigenes Haus. Die Eiswürfel in seinem Glas klingeln bei seinen überschwänglichen Gesten. Es scheint, dass er im Ensemble vom Mädchen für alles zum Geschäftspartner aufgestiegen ist. Er bestimmt, wo wir auftreten, und mischt sich unter die Reichen und Berühmten jeder Stadt, die wir besuchen. Die Gäste scheinen sich zu amüsieren, denn überall sehe ich heitere Gesichter, und wieder einmal wünsche ich mir, ich könnte ihre Sprache verstehen. Hin und wieder schenkt mir jemand ein Lächeln, doch ich lächele nur verhalten zurück. Jemand könnte mich ansprechen, und das würde mich in Verlegenheit bringen, denn mein Englisch reicht gerade einmal dazu aus, nach dem Waschraum zu fragen oder um ein Glas Wasser zu bitten.
Ich schlendere in Richtung des großen Saals im hinteren Teil des Hauses, wo es ein wenig ruhiger ist. Zwar will Signor Luisotti, dass wir uns unter die Gäste mischen, aber ich spreche nicht gern mit Fremden, für mich ist das einzige Vergnügen an solchen Abenden mein Cellospiel. Eine der großen, schweren Holztüren steht einen Spaltbreit offen, und ich bleibe unwillkürlich stehen, denn dahinter höre ich vertraute Stimmen.
»… schon sehr bald«, sagt Signor Luisotti. »Sieh dir das Mädchen doch an, sie ist eigentlich bereits eine Frau. Erst heute fragte mich einer der Gäste, wie alt sie sei. Wie lange können wir sie noch in bauschige Petticoats stecken und ihr Schleifen ins Haar flechten, damit man uns glaubt, dass sie erst fünfzehn ist? Sie ist neunzehn, und jeder, der Augen im Kopf hat, sieht das.«
»Bei allem Respekt, Antonio«, höre ich Signora Luisottis besonnene Stimme,
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