Für immer die Seele (Für-immer-Trilogie) (German Edition)
meine eigene Stimme. Ich weiß, dass ich schreie, und doch ist es, als käme kein einziger Laut aus meiner Kehle. Ich beuge mich so weit wie möglich vor und starre hinunter, hoffe vergebens, dass sie sich bewegt oder sonst irgendein Lebenszeichen von sich gibt – dass sie aufsteht und uns zuruft, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum ist. Der Wind erstickt meine Worte, als ich wieder und wieder ihren Namen rufe: »Alessandra!«
Rayne schüttelt meine Schultern und ich hieve mich in die Realität zurück. Ich sitze auf der Mitte der Treppe. Mein Gesicht ist nass von Tränen und meine Kehle wie zugeschnürt. Immer noch sehe ich das Bild vor mir. Alessandra starb an jenem Tag, hier vor dem Herrenhaus. Und ich frage mich, ob ich irgendetwas damit zu tun hatte.
»Cole! Was ist mit dir?« Rayne schaut mich besorgt an.
»Alles in Ordnung«, antworte ich, stehe auf und klopfe mir den nicht vorhandenen Dreck von der Jeans. Ich frage mich, wie es für Rayne wohl ausgesehen hat, und hoffe inständig, dass ich nicht tatsächlich laut geschrien habe. »Bin nur ausgerutscht«, erkläre ich und stapfe an ihr vorbei die Stufen hinunter in Richtung des relativ sicheren Gehwegs.
Schweigend gehen wir bis zur nächsten Ecke, in meinem Kopf ist nur Platz für das Bild von Alessandra, die tot auf dem Gehweg liegt. Ich spüre, dass Rayne darauf brennt, mir tausend Fragen zu stellen, und wie ich sie kenne, wird sie damit nicht mehr lange an sich halten.
»Verdammt, was hat das zu bedeuten?«, platzt es schließlich aus ihr heraus. »Und sag bloß nicht ›gar nichts‹. Ich bin schließlich nicht blöd. Mom sagt, ich hätte eine Gabe zu spüren, was in anderen Menschen vor sich geht, und was ich da gerade mitbekommen habe, war alles andere als ›gar nichts‹.«
Ich gehe ein Stückchen vor ihr, damit sie mein Gesicht nicht sehen kann. Immer noch schwirren Bilder von Alessandra durch meinen Kopf. »Versprich, dass du mit niemandem darüber reden wirst«, antworte ich, immer noch unschlüssig, ob ich ihr überhaupt etwas erzählen soll. Niemals käme ich auf die Idee, irgendjemand anderem auch nur einen Bruchteil von dem Wahnsinn anzuvertrauen, in den ich hineingeraten bin, aber Rayne ist schließlich nicht irgendjemand – sie ist das Mädchen, das an Heilsteine und Schicksal glaubt.
»Ich verspreche es«, sagt sie ernst und ein bisschen feierlich.
»Also, es ist so … Ich glaube, dass ich mich an Dinge erinnere«, beginne ich ein wenig stockend, »Dinge aus …« – es will mir einfach nicht über die Lippen kommen.
»Was für Dinge?«, hakt sie nach. »Komm schon, Cole, du kannst es mir sagen.«
»Du wirst mich bestimmt für total abgedreht halten.« Ich hole tief Luft: »Dinge aus früheren Leben.«
Rayne pfeift anerkennend durch die Zähne. »Du meinst Geister, die dich in andere Welten entführen? Hast du deshalb ausgesehen, als wärst du gerade einem Gespenst begegnet, als du vorhin mit dem Typ da oben gesprochen hast?«
»Nein, keine Geister«, sage ich. »Es sind … meine eigenen früheren Leben.« Der Satz hängt einen Moment lang in der Luft zwischen uns, während ich vorsichtig den Blick hebe und sie ansehe.
Sie schaut mich kurz an, dann schlingt sie ihre Arme um mich und drückt mich an sich. »Wuuuu! Ich kann gar nicht glauben, was ich da gerade gehört habe, und das aus deinem Mund!« Sie tritt ein Stück zurück und schaut mich an. »Es hat was mit Griffon zu tun, oder? Du hast erzählt, dass er sich mit Wiedergeburt beschäftigt, ich erinnere mich daran.« Sie knufft mich auf den Arm. »Allerdings hast du ihn praktisch für verrückt erklärt.«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Und es klingt ja auch wirklich abgedreht. Aber in letzter Zeit ist alles noch verrückter geworden und ich … Ich glaube, er sagt die Wahrheit. Ich habe mich an ein Fest in der Villa dort erinnert. Vor etwa hundert Jahren. Als die Leute noch in Pferdekutschen vorfuhren.«
»Wow«, sagt Rayne beeindruckt. Dann sieht sie mich ein bisschen gekränkt an. »Seit Jahren spottest du über meine dummen ›Hippie-Fantasien‹. Hast du ein Glück, dass ich nicht so drauf bin.«
Es tut gut, wenigstens ein bisschen von dem, was ich den letzten Wochen mit mir herumgeschleppt habe, mit jemandem zu teilen. Ich fühle mich nicht mehr so allein – auch wenn ich das mit den Akhet vorerst lieber für mich behalte.
»Wie spät ist es?«, fragt Rayne unvermittelt.
Ich schaue auf mein Handy. »Ungefähr Viertel vor vier, wieso?«
»Sehr gut.
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