Fuer immer und einen Tag
»Quatsch, natürlich nicht«, sagte er mit dem vertrauten Zwinkern in seinen Augen. »Der Zauber wird nie vergehen.«
»Ist dir auch wirklich warm genug?«, fragte Ben. Sie saÃen auf einer Parkbank, nachdem sie die Enten mit so viel Brot gefüttert hatten, dass diese beinahe absoffen. Emma hatte einen erhöhten Aussichtspunkt ein Stück weg vom See gewählt, von dem aus sie sich an dem prächtigen Field of Hope mit seinem Meer an Osterglocken erfreuen konnten.
Der März würde bald in den April übergehen, und das Wetter wurde stetig besser, doch trotz der milden Temperaturen war Emma in mehrere Schichten Wolle samt Mütze, Schal und Handschuhen gehüllt. »Ja, Ben. Es ist zwar keine Watte, aber ich bin gut eingepackt«, sagte sie in Anspielung auf ihr letztes Buchkapitel.
»Schon verstanden«, sagte er.
Sie arbeitete so oft es ging an ihrer Geschichte, nutzte verzweifelt die Zeit, die ihr blieb, auch wenn sie jedes Mal, wenn sie die Finger auf die Tastatur legte, merkte, wie die Minuten hindurchglitten. Sie mutete ihrem Körper viel zu, um das Buch zu beenden, und der wachsende Druck machte sich vor allem in ihrem Kopf bemerkbar. Dennoch versuchte sie, nicht allzu häufig zu den Schmerzmitteln zu greifen, die zwar die Rücken- und Kopfschmerzen minderten, sie aber auch träge und benommen machten. Die Computerschrift hatte sie schon stark vergröÃert, was jedoch nur bedingt gegen die Anfälle von verschwommenem Sehen half. Hin und wieder verlegte sie sich aufs Blindschreiben, aber auch das wurde immer schwieriger. Ihre linke Seite war deutlich geschwächt, und manchmal fühlten sich ihre Finger taub an oder vergaÃen völlig, die Befehle des Gehirns auszuführen. Darüber hinaus gab es geistige Aussetzer, frustrierende Minuten, die dahintickten, während sie nach den richtigen Begriffen suchte.
Kurzum, ihr Körper konnte nicht mehr mit der Geschichte, an der ihr Verstand weiterarbeitete, mithalten, und da kam Ben ins Spiel. Er war nicht nur ihr Reisegefährte und Diskussionspartner, sondern auch ihr Assistent, der neue Ideen schon im Entwicklungsstadium notierte, und ihr Lektor, der das gelegentliche Versagen ihres literarischen Könnens ausglich. Ben verbrachte nun fast seine gesamte Zeit mit ihr und ging nur noch ins Bistro, um Arbeiten an die vielen freiwilligen Helfer zu delegieren oder neue Menüs auszuarbeiten, die zu probieren oder gar zu kochen er keine Zeit hatte.
»Also, willst du mir jetzt verraten, was in die Schachtel hineinsoll?«, fragte er.
Emma blickte gedankenverloren über das Osterglockenfeld. Hunderte, wenn nicht Tausende von gelben Köpfen, die fröhlich im leichten Wind nickten. Manche mussten erst noch erblühen, während andere schon ein wenig ausgefranst an den Rändern waren, aber insgesamt bildeten sie einen nahtlosen goldenen Teppich. Der Himmel oben war im Kontrast dazu grau und trüb, und sie musste immer wieder geduldig warten, bis die Sonne durch die Wolkendecke drang und das Feld in all seiner Schönheit erstrahlen lieÃ.
Sie genoss das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Sie hatte es bis zum Frühlingsbeginn geschafft, und mit ein bisschen Durchhaltevermögen würde sie auch noch erleben, was für sie der eindrucksvollste Auftakt des Sommers war. »Wie ich es schon in der Geschichte geschrieben habe â das musst du entscheiden.«
»Aber möchte meine Frau mir vielleicht einen kleinen Hinweis geben, welche Art von Geschenk die Schachtel enthalten soll, oder muss ich ihre Gedanken lesen?«
Emma löste ihren Blick von den Osterglocken und sah ihn an. »Das ist mein letzter Frühling«, sagte sie, eine herzzerreiÃende Feststellung, mit der sie nur ausdrücken wollte, wie kostbar dieser Anblick vor ihr war. »Es ist eine fantastische Jahreszeit. Wie kann jemand diese Wiese ansehen und nicht über die Verwandlung staunen? Ich hoffe, ich komme noch dazu, die Baumblüte in voller Pracht zu sehen. Nur dann kann ich es mit der Jahreszeit aufnehmen, die mir am meisten Angst macht.«
Ben sagte zuerst nichts darauf. Er nahm jede Einzelheit von Emmas Gesicht in sich auf, bevor er sich wieder der Blumenwiese zuwandte. Niemand musste ihm sagen, dass es für seine Frau keine natürliche Abfolge der Jahreszeiten mehr gab, nach dem Frühling würde nicht der Sommer kommen. »Du möchtest, dass ich dir deinen Herbst schenke«,
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