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Fuer immer und ledig - Roman

Fuer immer und ledig - Roman

Titel: Fuer immer und ledig - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henrike Heiland
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Vielleicht war es doch nicht so falsch, was ich anhatte.
    »Tut mir leid, ich sehe aus, als käme ich von einer Beerdigung, aber ich hatte den ganzen Tag doofe Besprechungen. Kulturbetriebsmist. Du weißt schon. Und das auch noch an einem Sonntag!«
    Und wenn ich es mir recht überlegte, hatte er sich vielleicht doch gar nicht so sehr verändert.
    Vom Essen bekam ich, ehrlich gesagt, nicht so viel mit. Ich war so entsetzlich aufgeregt, dass ich Mühe hatte, mich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Gleichzeitig war ich froh, dass er so viel redete, weil ich selbst kaum in der Lage war, zusammenhängende Sätze zu bilden. Marc erzählte von New York, von den vielen unterschiedlichen WGs, in denen er dort schon hatte wohnen müssen, bevor er sich endlich ein eigenes Apartment leisten konnte, von Konzertreisen mit seinem Orchester nach Moskau und Prag und Warschau, von längeren Aufenthalten als Gastdirigent in Tokio und Tel Aviv, Sydney und London. Er sprach von Stücken, die er gehasst und die er geliebt hatte, von Solokünstlern, die er am liebsten auf den Mond geschossen hätte, von eitlen ersten und fähigen zweiten Geigen … Ich saß da und versank in seinen Augen, erinnerte mich an tausend Momente, in denen ich sein Lächeln gesehen hatte, Millionen Momente, in denen ich es vermisst hatte, ach, er hätte noch endlos weiterreden können.

    Tat er aber nicht. Irgendwann musste er einfach aufgehört haben mit Erzählen, und ich war so in Gedanken, dass ich es gar nicht bemerkte.
    »Tilly? Alles okay? Oh, Mann, ich hab dich bewusstlos gequatscht, was?« Marc rüttelte an meinem Arm.
    »Oh«, rief ich erschrocken. »Nein, nein, es ist nur … Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Sechzig Jahre? Ich meine, wann willst du das denn alles erlebt haben?«
    Er lachte. »Na komm, jetzt bist du dran. Was hast du so gemacht? Man findet gar nichts über dich im Internet, mal abgesehen von der Homepage deines Agenten. Tut Rupert denn gar nichts für dich?«
    Ich schluckte. »Na ja, nach meinem Abschlusskonzert …«
    »Es tut mir so leid, dass ich nicht dabei sein konnte«, unterbrach er mich. »Ich habe aber ganz fest an dich gedacht.« Er suchte meinen Blick und sah mich ernst an. Dann nahm er meine Hand. »Ich musste weg. Aber ich hatte noch ewig ein schlechtes Gewissen deshalb. Ich hoffe, das weißt du?«
    Ich dachte an die wunderschönen Blumensträuße, und endlich entspannte ich mich. »Ich weiß«, sagte ich.
    Dann erzählte ich ein bisschen. Im Vergleich zu Marcs Erlebnissen war es wirklich nur ein bisschen. Aber ich gab mir alle Mühe. Ich breitete meine Zeit in Weimar und in Leipzig so weit wie möglich aus, ritt unnötig lange auf dem Kompositionskurs herum, den ich belegt hatte, durchforstete mein Gedächtnis nach lustigen Anekdoten von der Staatsoper. Sogar die Sache mit Jörg,
dem Bassbariton, erzählte ich ihm, weil sie mir mit einem Mal so weit weg, so surreal erschien, dass sie mich gar nicht mehr berührte.
    Am längsten sprach ich allerdings über unser besetztes Künstlerhaus in Bahrenfeld. »Wir könnten sonst gar nicht richtig üben, wo sollen wir denn hin mit unseren Flügeln? Und die Künstler und Bildhauer haben da genug Platz, um sich auszutoben und gleichzeitig auch auszustellen.« Ich erzählte ihm von jedem einzelnen meiner Freunde dort, sogar von der Kaffeemaschine und wie wir dazu gekommen waren. »Ina von Lahnstein kommt einmal in der Woche vorbei und bringt mir ihren Sohn Oscar, und während ich den armen Kerl an der Klaviatur quäle, kauft sie ein paar Bilder, schnattert mit den anderen und geht nach einer Stunde wieder mit einem extrem demotivierten Oscar. Der Ärmste wird es nie lernen«, lachte ich.
    »Bei so einer tollen Lehrerin?«, rief Marc empört, und mein letztes Fitzelchen Unsicherheit schmolz dahin. »Warum quält ihn seine Mutter so, wenn der Junge doch kein Talent hat?«
    Ich zuckte die Schultern. »Familientradition, sagt sie immer. Wahrscheinlich denkt sie, es gehört wohl im wahrsten Sinne des Wortes zum guten Ton. Aber der Junge wird nie im Leben schwarze von weißen Tasten unterscheiden können, ganz egal, wie lange er es versucht. Er interessiert sich sehr für Architekturgeschichte, wie ich rausgefunden habe. Also dachte ich mir: Klein-Oscar ist wohl mehr so ein Theoretiker, der erst mal die
großen Zusammenhänge verstehen muss, bevor er sich für was begeistern kann. Deshalb versuche ich jetzt, ihn über Musikgeschichte abzuholen, damit er nicht ganz nutzlos bei mir

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