Für immer untot
nicht der Fall sein. Wie alle Meister konnte Rafe Blutmoleküle aus der Ferne aufnehmen. Er wäre imstande gewesen, das Blut der Gäste in der Bar zu »trinken«, ohne dass sie etwas davon merkten – bis sie von ihren Stühlen fielen.
»Es ist alles in Ordnung mit mir, Cassie.« Rafe drückte meine Hände, und ich beruhigte mich sofort. So wirkte er immer auf mich, vielleicht deshalb, weil er mich als Kind so oft getröstet hatte. Ich war mit der Überzeugung aufgewachsen, dass es nichts zu befürchten gab, wenn er es sagte, und alte Angewohnheiten ließen sich schwer überwinden.
»Was ist dann los?«, fragte ich. »Irgendetwas stimmt nicht.«
Rafe schluckte, aber anstatt zu antworten, sah er mich bittend an. Das Neonlicht der gläsernen »Flammen«, die die Theke umgaben, huschte über sein Gesicht. Meine Ruhe, erst wenige Sekunden alt, floh Hals über Kopf. »Rafe! Du machst mir Angst!«
»Das liegt nicht in meiner Absicht, mia Stella.« Seine Stimme, normalerweise ein Tenor mit leichtem Akzent, war ein heiseres Krächzen. Er schluckte, aber als er erneut zu sprechen versuchte, brachte er nur einen erstickten Laut hervor. Er ließ meine Hände los und fasste sich an den Hals. Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse, und ich wich einen Schritt zurück und stieß gegen die kühle Dunstsäule namens Billy Joe.
Manche Leute hatten Geistführer: kluge, ruhige Typen, die ihnen aus dem Jenseits halfen. Ich hatte einen besserwisserischen Falschspieler, der mehr Zeit damit verbrachte, die Kasinospiele zu frisieren, als mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Was vielleicht gar nicht so schlecht war, wenn man bedachte, dass er am Grund des Mississippi aus dem Leben schied, dank zweier Cowboys, die er beim Kartenspiel betrogen hatte.
»Er kämpft gegen einen Befehl an. Er darf dich nicht aufsuchen und tut es trotzdem«, sagte Billy unnötigerweise.
Ich warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. Billys Status als das jenseitige Element unserer Partnerschaft bedeutete oft, dass er mehr über die übernatürliche Welt wusste als ich, aber dafür wusste ich mehr über Vampire.
Immerhin war ich bei Tony aufgewachsen.
Selbst Vampire, die zu Meistern wurden, waren an die Kontrolle durch ihre eigenen Meister gebunden. Es sei denn, sie erreichten die erste Stufe, die den meisten von ihnen für immer verwehrt blieb. Doch ältere Vampire waren flexibler bei der Interpretation von Befehlen, erst recht, wenn sie klug und bereit waren, Strafe zu riskieren. Rafe hatte mir gegenüber schon einmal alle fünfe gerade sein lassen und Mircea auf Tonys Plan hingewiesen, mich zu töten, obwohl damit erhebliche Gefahren für ihn verbunden gewesen waren. Wenn er mir nicht geholfen hätte, wäre ich nicht lange genug am Leben geblieben, um die neue Pythia zu werden.
»Tony ist nicht hier und kann dir keine Anweisungen erteilen«, sagte ich langsam, woraufhin ein Teil der schrecklichen Anspannung aus Rafes Gesicht wich. Der Fluch unserer beiden Existenzen hatte diese Welt verlassen, im wahrsten Sinne des Wortes – er versteckte sich irgendwo im Feenland. »Er kann dir kaum befohlen haben, nicht zu mir zu kommen. Es sei denn, es ist ein alter Befehl.«
Für einen langen Moment war Rafe wie erstarrt, und nur das flackernde Licht der gläsernen Flammen erzeugte Bewegung in seinem Gesicht. Dann schüttelte er fast unmerklich den Kopf. Ich sah zu Billy Joe, der ein wenig zur Seite geschwebt war. Das Licht der Flammen filterte auf gespenstische Weise durch ihn, gab ihm ein goldenes, rotes und bernsteinfarbenes Glühen. Mit einem substanzlosen Finger schob er seinen Stetson nach oben. »Das grenzt es ein, nicht wahr?«
Ich nickte. Tony war nicht da, und damit blieb nur eine Person übrig, deren Befehle dazu führen konnten, dass Rafe schon bei der Vorstellung, ihnen nicht zu gehorchen, keine Luft mehr bekam: Tonys Meister.
Es war sehr warm in der Bar, aber plötzlich schauderte ich und bekam eine Gänsehaut. Unerfülltes Verlangen durchwogte mich, kochte im Blut, knisterte in den Knochen und juckte auf der Haut – alles in mir sehnte sich nach jemandem, der nicht da war. Ich sah zum Schild über der Theke. FÜHRE MICH NICHT IN VERSUCHUNG, stand dort. DENN DANN MÜSSTE ICH ZU-RÜCKKEHREN.
Rafe sah mich mit großen, besorgten Augen an. Mir fiel nur ein Grund für sein Kommen ein – er wollte mich bitten, Mircea einen Besuch abzustatten. Das hatte mir gerade noch gefehlt. In letzter Zeit lagen meine Nerven fast ständig blank, aber das war nicht Rafes
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