Für immer untot
»Sag mir die Wahrheit, Rafe. Hat Mircea dich geschickt?«
Wenn er wirklich starb, ergab es durchaus einen Sinn, dass Mircea Rafe mit dem Auftrag schickte, es mir zu sagen. Mircea hatte mir das Leben gerettet, indem er Tony daran hinderte, sich an mir zu rächen. Dafür stand ich in seiner Schuld, und es würde mich nicht wundern, wenn er versuchte, diese Schuld einzutreiben.
Was allerdings keinen Sinn ergab: Warum sollte er Rafe befehlen, eine Schau abzuziehen, um mich zu täuschen und glauben zu lassen, dass er ihm befohlen hatte, sich von mir fernzuhalten? Nun, Mircea sah wie Anfang dreißig aus, aber in Wirklichkeit war er fünfhundert Jahre alt, und wie bei den meisten alten Vampiren lief es auf eine Untertreibung hinaus, seine Überlegungen komplex zu nennen. Ich war schon vor einer ganzen Weile zu folgender Erkenntnis gelangt: Um herauszufinden, was ein Vampir wirklich wollte, suchte man am besten nach dem, was ihm am meisten nützte, und schenkte allem anderen keine Beachtung. Und was hätte Mircea mehr genützt als die Vervollständigung des Geis?
Rafe blinzelte, und für einen Moment sah ich einen Schmerz anderer Art in seinem Gesicht. »Glaubst du, ich könnte dich belügen?«
»Wenn Mircea es dir befehlen würde, ja. Dann bliebe dir keine Wahl!«
»Es gibt immer eine Wahl«, erwiderte Rafe beleidigt. »Wenn er mir befohlen hätte, dich zu belügen… « Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts dafür, wenn ich manchmal kein guter Schauspieler bin.«
»Aber du magst Mircea. Es könnte ein Befehl sein, mit dem du einverstanden bist.«
Rafe seufzte verärgert. »Mircea hat viele gute Eigenschaften, Cassie. Ich bin bestens mit ihnen vertraut. Aber er hat auch Fehler, insbesondere einen, der sich hoffentlich nicht als fatal erweist. Er ist stur. So stur, dass er nicht auf die Experten der Konsulin hört, wenn sie ihm sagen, dass er das nicht besiegen kann. So stur, dass er es nicht für möglich hält, in diesem Fall an die Grenzen seiner Macht zu stoßen. Und er ist so stolz, dass er es selbst dann nicht zugeben würde, wenn er genau darüber Bescheid wüsste.«
Das klang tatsächlich nach Mircea. Und ich hatte mich eigentlich nie gefragt, wie er auf die Fehlfunktion des Geis reagieren würde. Ich hatte immer angenommen, dass es ihm nur darum ging, mich mit dem Zauber unter seine Kontrolle zu bekommen. Aber während ich fast daran gewöhnt war, dass mein Leben immer wieder völlig durcheinandergeriet, sah die Sache bei ihm ganz anders aus. Mircea manipulierte andere Leute und benutzte sie, damit er oder der Senat bekamen, was sie wollten. Er war nicht daran gewöhnt, dass jemand oder etwas auf die gleiche Weise mit ihm verfuhr.
»Und vergiss nicht Folgendes, wenn du an Täuschung denkst«, sagte Rafe drängend. »Der Magier Pritkin hat keinen Grund, Mircea zu retten. Wenn er stirbt, ist der Zauber gebannt. Er braucht nur genug Zeit zu schinden, bis das geschieht, und dann bist du frei.«
Mein Mund öffnete sich von ganz allein, um zu widersprechen, doch ich klappte ihn wieder zu. Der Codex enthielt einen geheimnisvollen Zauber, von dem Pritkin nicht wollte, dass ihn jemand bekam. Wir hatten folgende Übereinkunft getroffen: Wenn wir das Buch fanden, würde ich ihm Gelegenheit geben, diesen Zauber zu entfernen, bevor ich nach dem Gegenzauber für den Geis suchte. Aber was, wenn er mir nicht traute? Ich kannte die magische Welt nicht gut genug, um zu wissen, wen ich um Informationen bitten konnte. Alle Experten, mit denen wir gesprochen hatten, kamen von Pritkin. Und dann der ganze »Gehen Sie, ich bleibe hier«-Kram. War es Pritkin wirklich um mein Wohlergehen gegangen, oder hatte er mich daran hindern wollen, irgendetwas zu entdecken? Gerieten wir vielleicht deshalb immer wieder in Schwierigkeiten, weil er es so wollte?
»Fast hätte ich es vergessen. Ich habe etwas für dich.« Rafe tastete unter seinem Mantel umher und holte ein kleines Päckchen hervor, in schwarzen Filz gewickelt. »Die Feen haben das Mircea gegeben. Sie nahmen an, dass er es als dein Meister an dich weitergeben würde.«
Ich wickelte das Päckchen aus und fand alte Tarot-Karten. Sie waren schmutzig und zerknittert, und bei mehr als einer fehlten die Ecken. Es überraschte mich, sie wiederzusehen, denn ich hatte sie bei einer verhängnisvollen Reise ins Feenland verloren. Ich war froh gewesen, es lebend wieder verlassen zu können, ohne groß Gedanken daran zu vergeuden, was ich dort zurückgelassen hatte.
Plötzlich
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