Für Nikita
war in Sinedolsk geboren und auf dieselbe Schule gegangen wie Russow. Jegorow senior war Jäger bei den
hohen Parteibossen gewesen.
Iwan hatte sieben kreisrunde Brandnarben auf dem Handrücken. Er war derjenige gewesen, der beim Anblick der gestrengen Direktorin
die noch brennende Zigarette in die Hosentasche gesteckt hatte. Hinterher, nach seinem wilden Aufschrei, drückte er zusammen
mit den anderen Jungen auf Grischas Idee hin Zigaretten auf seinem Handrücken aus. Um seinen Ruf wiederherzustellen, hielt
derelfjährige Iwan ohne einen Ton sieben Verbrennungen aus. Mehr als alle anderen. Sieben, nicht fünf wie Russow.
Als Russow seine Version dieser alten Geschichte auf Band sprach, war Nikita Rakitin plötzlich Iwan Jegorow wieder eingefallen
– der könnte ihm doch etwas über Russows Kindheit erzählen! Ohne sonderlich auf Erfolg zu hoffen, wählte er die Nummer, die
er in seinem zerfledderten alten Notizbuch fand.
Sie trafen sich in einer kleinen Bierkneipe in der Nähe des Kinderkrankenhauses, in dem Fedja lag. Von dort gingen sie zu
Nikita nach Hause und saßen dort die ganze Nacht bei einer Flasche Wodka zusammen.
»Aber es gibt doch keinerlei Beweise«, wiederholte Nikita. »Na schön, er war mit diesem Guru befreundet … Übrigens, weißt
du, daß die Astachowa die Cheflektorin des Verlages ist, in dem meine Bücher erscheinen?«
»Ich will mit keinem von diesen Leuten irgendwas zu tun haben. Russow, Shanli, die Astachowa – die können mir alle gestohlen
bleiben!« Jegorow hieb mit der Faust auf den Tisch. Er war nach dem zweiten Wodka schon betrunken, denn er war ausgezehrt,
erschöpft und hatte lange keinen Alkohol mehr getrunken. »Am liebsten würde ich sie alle … Allesamt, mit einer einzigen Salve
… Aber das geht nicht. Dann komme ich in den Knast. Und Fedja hat niemanden mehr außer mir.«
»Warum wurden sie weggebracht? Wohin?« fragte Nikita mehr sich selbst als Jegorow. »Auf etwas direkt Kriminelles hätte Russow
sich nie eingelassen. Das Eigentum dieser Unglücklichen dürfte ihn kaum interessiert haben.«
»Das ist ganz sicher. Darum ging es ihm nicht.« Jegorow schüttelte den Kopf. »Obwohl die am Ende alle so blöd im Kopf waren,
daß sie sich alles hätten abknöpfen lassen. Aber die wollten was anderes, die wollten die Menschen selbst. Ergeben und zu
allem bereit. Sklaven.«
»Sklaven«, murmelte Nikita nachdenklich. »Wer braucht heutzutage noch unqualifizierte Sklavenarbeit? Bei der Arbeitslosigkeit
kriegt man doch für ein paar Rubel jederzeit Schwarzarbeiter. Aber Schwarzarbeiter sind gesprächig. Uran vielleicht? Strategische
Rohstoffe?«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich bin sicher: Oxana und Slawik sind tot. Das spüre ich.«
»Als stellvertretender Minister hat er Leuten wie Mun und Asahara den Weg in die Schulen und Hochschulen geebnet«, überlegte
Nikita laut weiter. »Die haben ihn gut bezahlt. Aber sein Grundkapital muß er irgendwie anders gemacht haben.«
»Er wird dich umbringen, Nikita«, sagte Jegorow dumpf, »natürlich nicht selber, er wird jemanden engagieren. Wieso zum Teufel
hast du dich überhaupt darauf eingelassen? Ein Buch über ihn! Wer ist er denn, daß er ein Buch verdient hätte? Er hat dir
doch Nika weggenommen, hundsgemein und hinterlistig. Und du …«
»Nika ist kein Pferd und er kein Zigeuner«, murmelte Nikita hastig.
Jegorow kippte noch ein Glas Wodka.
»Laß die Finger davon, Rakitin. Du hast eine Tochter. Häng dich da nicht rein.«
»Ein Teil des Aktienpakets des Verlags gehört ihm«, fuhr Nikita unbeirrt fort. »Die Astachowa ist seit vier Jahren Cheflektorin.
Das ist wirklich witzig. Deshalb also war sie gar nicht verärgert, daß mein nächster Roman erst drei Monate später kommt.
Ich hab mich immer gefragt, wer wohl Russows Mann im Verlag ist. Also, der Guru Shanli hat vertrauensselige Dummköpfe, die
gesünder leben wollten, zu Zombies gemacht, die Astachowa hat mit ihrem Arztdiplom und ihrem Doktortitel diesen Shanli gedeckt,
und Russow hat beide protegiert. Warum? Sie haben ihm kaummehr gezahlt als Mun und Asahara. Vermutlich hat er ihre Produkte genutzt, also die Leute, die zu hündischer Ergebenheit manipuliert
worden waren. Aber irgendwann wurde die Sache wohl zu brenzlig. Der Guru Shanli verschwand, die Astachowa brachte Russow im
Verlag unter. Na schön, das spielt vorerst keine Rolle. Das Mädchen in der Metro hat also gesagt, sie hätten Fedja
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