Für Nikita
drang zu ihr hinauf. Am Krankenhauszaun saß ein Bettler, mit Riemen auf einem flachen, vierrädrigen Wagen festgeschnallt.
Ein beinloser Stumpf. Das Gesicht schwarz, wie geräuchert. Rote, tief eingefallene Augen, dichte Bartstoppeln. Auf dem Kopf
Lumpen – ein alter Verband oder ein Frauenkopftuch. Eine zitternde, mit einem schmutzigen Lappen umwickelte Hand ausgestreckt.
Nika nahm Kleingeld aus ihrer Manteltasche und legte es in die Hand.
»Wenn Sie noch lange so sitzen bleiben, dann verlieren Sie früher oder später wirklich Ihre Beine«, sagte sie schnell, »lassen
Sie das lieber sein.«
»Schönen Dank«, mümmelte der Bettler und warf die Münzen in eine räudige Pelzmütze neben seinem Wägelchen.
»Was denn, hat er wirklich Beine?« Sina blickte dem Bettler nach, der bereits davonrollte, sich geschickt mit langen Affenarmen
vom Boden abstoßend.
»Klar« – Nika nickte zerstreut –, »er zieht sie an und schnallt sie fest. Ach, zum Teufel mit ihm. Wo gehen wir hin? In dieser
Stadt kennt mich jedes Kind.«
»Ich weiß einen Ort«, sagte Sina und zwinkerte ihr fröhlich zu, »da erkennt dich bestimmt keiner.«
»Warst du etwa schon mal hier?« fragte Nika erstaunt.
»Nein, noch nie. Ich bin gestern abend angekommen. Aber ich habe einen Riecher für schmuddelige gemütliche Plätzchen.«
Es war eine Pelmenistube hinterm Bahnhofsplatz, ein erstaunlicherweise stehengebliebener Glaspavillon aus den späten Siebzigern.
Die Glaswände schienen seit damals nie geputzt worden zu sein.
»Zwei anonyme Briefe. Einer an dich, einer an mich«, sagte Sina geheimnisvoll und legte den Finger auf die Lippen. »Deinen hab ich nicht gelesen, der Umschlag ist versiegelt.«
»Was?« fragte Nika abwesend zurück. Sie hatte den Schock noch immer nicht überwunden.
»In meinem war das Geld für das Flugticket. Mit der Bitte, dich aufzusuchen.«
Es war ein ganz normales Kuvert, ohne Briefmarken und Adresse. In der Ecke standen lediglich zwei Buchstaben: V. J., mit schwarzer
Tinte von Hand geschrieben. Beim Anblick dieser beiden Buchstaben, den Initialen ihres Namens, Veronika Jelagina, spürte Nika
ihr Herz ängstlich pochen.
Das Kuvert enthielt ein Blatt Papier, der Text war auf einer alten Schreibmaschine getippt.
»Veronika Sergejewna! Ihr alter Bekannter Nikita Rakitin wurde in der Wohnung von Sinaïda Resnikowa tot aufgefunden. Für die
Miliz ist es bequemer, Rakitins Tod als Unfall zu betrachten. Aber er wurde ermordet. Den Auftraggeber kennen Sie. Es ist
Ihr Mann. Es hängt von Ihnen ab, ob dieser Mord ein ›Unfall‹ bleibt. Ich denke, um Ihrer selbst willen sollten Sie den Vorfall
aufklären und sich so schnell wie möglich nach Moskau begeben.« Keine Unterschrift.
Sina, die genüßlich die zweite Portion Pelmeni mit Schmand verspeiste, zog aus ihrer Tasche ein weiteres Blatt Papier, zerknittert
und schon ziemlich speckig.
»Das hier war an mich.«
An Sina schrieb der Absender trocken und sachlich, er wies sie Punkt für Punkt an, was sie zu tun habe:
»1. Hier sind siebenhundert Dollar. Das reicht für einen Flug nach Sinedolsk und zurück. Den Rest können Sie behalten.
2. Sie müssen sich mit Ihrer alten Bekannten Veronika Jelagina treffen und Ihr diesen Brief verschlossen und ohne Zeugen übergeben.
Sie finden Veronika Sergejewna im städtischenKrankenhaus, in der Chirurgie. Dienstags und donnerstags hält sie von neun bis drei im Zimmer des stellvertretenden Abteilungsleiters
Sprechstunden ab.
3. Beide Briefe dürfen unter keinen Umständen in fremde Hände gelangen.
Seien Sie vernünftig und vorsichtig.«
Kein Datum, keine Unterschrift.
Die Briefe waren auf einer uralten Schreibmaschine mit kleiner Schrift getippt worden. Das Farbband war vermutlich nagelneu.
Nika bemerkte ein paar Flecke, einige Buchstaben waren zu fett, verschmiert. Das »K« und das »L« waren tiefer gerutscht.
Sachlich und abwesend überlegte sie, daß sie den anonymen Brief Igor Simkin zeigen sollte, dem Chef der Leibwache ihres Mannes.
Er könnte Fingerabdrücke sicherstellen. Für alle Fälle.
Sonderbarerweise empfand Nika eine gewisse Erleichterung. Ihren Kopf einzusetzen fiel ihr immer leichter, als sich ihren Gefühlen
auszuliefern. Im Moment war ihr einziges Gefühl ein ungeheurer, unglaublicher Schmerz. Der anonyme Brief hatte eine enorme
ablenkende Wirkung. Sie sollte sich darauf konzentrieren – das Ganze roch nach Erpressung und Provokation. Von wem und warum?
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