Für Nikita
dem Aufwachen zu Fedja
ins Krankenhaus. Immer hatte er das Gefühl, wenn er heute nicht hinginge, wenn er den Jungen dort allein ließe, würde etwas
ganz Schlimmes passieren. Also verschob er die Suche nach Oxana und Slawik auf später.
Eines Tages, als er in einem halbleeren Metrowagen saß, vernahm er eine klagende Kinderstimme: »Liebe Fahrgäste! Entschuldigen
Sie, daß ich Sie belästige …«
Er öffnete die entzündeten Augen und erblickte ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sie lief gebückt. Auf ihrem Rücken war ein
schlafendes Baby festgebunden. Jegorow langte mechanisch in die Hosentasche nach Kleingeld. Das Mädchen bemerkte das und kam
zielstrebig auf ihn zu. Als siedicht vor Jegorow stand, zuckte er so heftig zusammen, daß er ein paar der bereitgehaltenen Münzen fallen ließ. Das Mädchen
trug Fedjas Jacke.
Vor zwei Jahren hatte er für seine Söhne in einem teuren Geschäft in Oslo erstklassige Daunenjacken gekauft, eine grüne für
Slawik, eine blaue für Fedja.
Die blaue Daunenjacke des Mädchens war schmutzig und zerrissen und gab zusammen mit dem zerknitterten knöchellangen Rock ein
überzeugendes Bettlergewand ab, obwohl sie fast vierhundert Dollar gekostet hatte.
Das Mädchen bückte sich und sammelte flink die Münzen auf. Das Kind auf ihrem Rücken wäre dabei fast kopfüber aus dem Tuch
gefallen, schlief aber weiter fest.
»Vorsicht, du läßt es gleich fallen«, sagte Jegorow leise.
Das Mädchen funkelte ihn mit bösen, erwachsenen Augen an und rannte zur Tür. Der Zug fuhr gerade in die Station ein. Jegorow
stand auf und ging bemüht langsam zur anderen Tür. Er hatte keinen bestimmten Plan. Er wußte nur, daß er äußerst behutsam
vorgehen mußte. Das Mädchen war natürlich nicht allein. An der Station wurde es womöglich von Erwachsenen erwartet – er hatte
irgendwo gelesen, daß die Bettler organisiert waren und die Kinder, die in der Metro und in den Vorortzügen bettelten, immer
erwachsene, professionelle Beschützer hatten. Die nahmen den Kindern das Geld weg und boten ihnen dafür ein Nachtlager, Essen,
Kleidung und relative Sicherheit. Sich an die Miliz zu wenden war zwecklos. Die Bettler schmierten die Milizionäre in ihrem
Revier mit beachtlichen Summen.
Die Türen gingen auf. Das Mädchen stieg aus und lief rasch zum Bahnsteigende.
»Du, kannst du mir vielleicht sagen, wie ich am besten zur Station Domodedowskaja komme?« fragte Jegorow laut.
»Guck auf den Plan!« knurrte sie, ohne sich umzudrehen.
»Warte mal, ich bin fremd hier, bei uns gibt’s keine Metro, ich kenn mich mit eurem Plan nicht aus. Ich hab mich verfahren,
ich fahr schon über eine Stunde rum, hilf mir doch, sei so gut, ich zahl dir dafür auch, was du verlangst.«
»Für fünfzig erklär ich’s dir.«
In ihren Augen stand so erwachsener, so unverhohlener Hohn, daß Jegorow ganz anders zumute wurde.
»Du kriegst hundert«, sagte Jegorow schnell, »wenn du mir sagst, woher du die Jacke hast. Keine Angst, ich nehme sie dir nicht
weg, ich will’s nur wissen.«
»Zweihundert«, sagte das Mädchen leise und ganz ernst, die Augen noch immer auf Jegorow gerichtet.
»Gut, zweihundert. Ich weiß, daß du die Jacke einem Jungen abgenommen hast, der hier zusammen mit euch gebettelt hat. Wo habt
ihr ihn aufgelesen? Mehr will ich gar nicht wissen.«
»Her mit dem Geld.«
Jegorow reichte ihr zwei Geldscheine. Die schmutzige magere Hand ließ sie flink verschwinden, geübt wie die eines Zauberkünstlers.
»Und der Rest?« Das Mädchen schluckte nervös.
»Den kriegst du, wenn du’s mir gesagt hast.«
»Den Kleinen haben wir auf dem Bahnhof aufgelesen. So, jetzt gib mir noch hundert.«
»Auf welchem Bahnhof?«
»Auf dem Belorussischen, Mann! Her mit dem Geld.«
Jegorow reichte ihr einen Hunderter. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stürzte das Mädchen in die schon schließende Tür des
letzten Wagens.
»Liebe Fahrgäste …«
Während sie langsam durch den Wagen lief, dachte sie, daß sie doch ein Glückspilz war. Nicht nur, daß sie die tolle Jacke
erwischt hatte, jetzt war ihr auch noch der bescheuerte Flieger über den Weg gelaufen. Sie hatte gleich begriffen: Der Kerl
lügt. Von wegen fremd hier! Ira war schließlich auf dem Bahnhof aufgewachsen, ihr machte keiner was vor! Erst war sie erschrocken
– wenn er ihr nun die Jacke wegnahm? Hatte er aber nicht, im Gegenteil, er hatte ihr noch zweihundert Rubel gegeben, einfach
so. Sie war so
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