Für Nikita
Frau stand an der Tür, gegen den Rahmen gelehnt. Er konnte zwar im Dunkeln ihre Augen nicht sehen, erkannte jedoch an
ihrer Stimme: Sie spürte etwas.
»Hat nicht eben das Telefon geklingelt?« Sie schaltete die Stehlampe ein und setzte sich Rakitin gegenüber auf die Liege.
»Kam der Anruf aus Moskau? Mit wem hast du gesprochen?«
»Verstehst du, Olga«, flüsterte er sanft, stand aus dem Sessel auf und ließ sich neben ihr nieder, »eine ganz blöde Geschichte.
Aber reg dich bitte nicht auf. Ich wollte dich nicht wecken. Ich bin sicher, das Ganze ist Unsinn, ein Mißverständnis.«
»Juri, spar dir die lange Einleitung. Du weißt doch, das regt mich nur noch mehr auf.«
Rakitin verzog wegen der bitteren Nitroglycerintablette das Gesicht und sagte hastig: »Galina hat eben angerufen. Sie hat
gesagt, in einer fremden Wohnung sei ein verkohlter Leichnam gefunden worden, nein, nicht in einer fremden, in der Wohnung
von Sina Resnikowa. Erinnerst du dich an das Mädchen, die Malerin? Und das sei angeblich unser Nikita. Absoluter Unsinn« –
er lachte nervös –, »Galja war schon immer hysterisch und eine Panikmacherin.«
»An Sina Resnikowa erinnere ich mich sehr gut«, antwortete Olga ruhig, »aber wieso Sina, wieso in ihrer Wohnung? Nikita sollte
doch am ersten Juni herkommen, zusammen mit Mascha.« Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Moskauer Wohnung. Rakitin
hörte mit ihr zusammen das lange Tuten.
»Nicht zu Hause. Natürlich, in Moskau ist es jetzt elf Uhr vormittags. Er ist schon weg. Jura, hast du irgendwo Galinas Nummer?«
Rakitin ging in sein Arbeitszimmer und kam mit einem dicken Telefonmerker zurück.
In der Wohnung von Nikitas Exfrau wurde fast sofort abgehoben.
»Mascha!« rief Olga. »Wo ist Mama? Sie hat uns gerade angerufen.«
»Sie ist nicht da. Sie hat nicht von zu Hause angerufen.« Die Stimme des Mädchens klang eigenartig dumpf.
»Warum bist du denn nicht in der Schule, Kind? Du bist doch nicht etwa krank?«
»Oma, weißt du schon Bescheid? Hat Mama es dir gesagt?«
»Was denn, Mascha? Daß Papa und du am ersten Juni kommt? Natürlich weiß ich das.«
»Ich kann es dir nicht sagen, Oma, ich kann nicht«, murmelte das Mädchen, als rede es plötzlich im Fieber.
Rakitin saß neben seiner Frau und hörte jedes Wort. Er nahm ihr den Hörer aus der Hand.
»Hallo, Mascha, hör mir zu. Das ist nicht wahr, das mit Papa.«
»Was denn, Opa, ihr wißt es schon?«
»Bist du allein? Was machst du gerade?«
»Nichts. Ich kann nichts machen. Kommt ihr bald, du und Oma?«
»Ja, Mascha. Sehr bald. Und dann finden wir heraus, was wirklich passiert ist.«
»Alle sagen, das war Papa. Aber ich glaube es nicht.«
»Richtig so, Mascha. Natürlich, das ist ein Irrtum, und bald wird sich alles klären.«
»Das habe ich auch zu Mama gesagt, aber sie schreit: Er wurde ermordet, er wurde ermordet!«
»Blödsinn! Wer soll ihn ermordet haben? Warum?«
»Mama sagt, sie ist an allem schuld. Weißt du, sie ist ineine dumme Geschichte reingeraten, sie hat unterschrieben, daß sie sich einen Haufen Geld geborgt hat, und dafür sollte sie
Arbeit bekommen. Aber dann hat sich herausgestellt, daß das Banditen waren. Sie haben das Geld zurückverlangt und sie bedroht.
Aber Mama hatte sich ja gar kein Geld geliehen, sie hat nur den Zettel unterschrieben. Sie haben dauernd angerufen, einmal
waren sie sogar bei uns zu Hause. Und vor der Schule stand ein Auto, sie haben gesagt, wenn Mama zur Miliz geht, dann würden
sie mich vor ihren Augen vergewaltigen und umbringen.«
»O Gott, Mascha, das hat dir Mama alles erzählt? Oder woher weißt du das?«
»Ich hab gehört, wie Papa und Mama in der Küche darüber geredet haben. Sie war bei Papa und hat ihn um Hilfe gebeten. Aber
so viel Geld … Selbst wenn Mama die Wohnung verkauft und Papa sein ganzes Honorar gegeben hätte, wäre das immer noch zuwenig
gewesen. Jedenfalls, Papa hat ihr nichts versprochen, aber nach ein paar Tagen hat er das Geld wohl doch beschafft. Da ließen
sie uns in Ruhe. Und nun so was …«
»Wann war das, Mascha?«
»Vor einer ganzen Weile. Im Februar. Opa, erzähl das aber bitte nicht weiter. Mama hat furchtbare Angst.«
Rakitin hörte wie erstarrt seiner Enkelin zu und bemerkte nicht, daß seine Frau ihn mit vollkommen glasigen Augen ansah und
reglos wie eine Statue dasaß, die Hände ordentlich auf dem Schoß gefaltet.
»Olga«, sagte er, als er aufgelegt hatte, »wir fliegen morgen
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