Für Nikita
nach Moskau. Nein. Heute schon. Olga, hörst du mich?«
Er berührte ihre Schulter, strich ihr über die Wange. Sie starrte weiter mit glasigen Augen vor sich hin.
»Olga! Sag doch was!« Er rüttelte sacht an ihrer Schulter. Sie fiel wie eine Puppe auf die Liege.
Der zehn Minuten später eintreffende Notarzt erklärte, es handele sich um einen »psychogenen Schock«, eine hypokinetische
Reaktion. Nichts Ernstes, aber sie brauche ein paar Spritzen und zwei, drei Tage absolute Ruhe.
»Wenn der traumatisierende Faktor nicht beseitigt werden kann, wie in Ihrem Fall«, sagte der Arzt, »dann besteht die Gefahr
eines Selbstmordversuchs. Die Kranke scheint nur völlig apathisch und kraftlos, aber allein gelassen, ohne Aufsicht, könnte
sie versuchen, Hand an sich zu legen. Ich rate Ihnen, Ihre Frau in einer Klinik unterzubringen.«
Eine Klinik lehnte Rakitin ab. Er bat ihre Haushaltshilfe Joy, ein paar Tage bei ihnen zu wohnen. Er rief in der Uni an, erklärte
die Situation und nahm aufrichtige Worte des Beileids entgegen.
»Heute Nacht ist für Sie ein Fax aus Moskau gekommen. Auf russisch«, sagte die Sekretärin der Musikfakultät. »Ich rufe gleich
jemanden von den Slawisten, damit er es Ihnen vorliest.«
Kurz darauf las ihm Slawistikprofessor Jeremy Wood vor: »Sehr geehrter Juri Petrowitsch! Mit tiefem Bedauern teilen wir Ihnen
mit, daß Ihr Sohn Nikita Jurjewitsch Rakitin am zehnten Mai dieses Jahres durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Leitender
Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft des Südöstlichen Verwaltungsbezirks G. K. Konowalow.«
»Das ist ein Irrtum«, flüsterte Rakitin, »das kann nicht sein.«
»Verzeihung, was?« fragte Jeremy. »Könnten Sie bitte etwas lauter sprechen?«
Aber Rakitin konnte nicht lauter sprechen. Seine Stimme versagte. In den nächsten Tagen konnte er nur flüstern.
Nach drei Tagen kam Olga wieder zu sich. Von dem Fax erzählte er ihr nichts.
Im Flugzeug gab es russische Zeitungen. Rakitin blätterte eine nach der anderen durch und stieß unvermittelt auf ein Foto
seines Sohnes. Auf der letzten Seite einer Jugendzeitung wurde in der Rubrik »Besondere Vorkommnisse« mitgeteilt, in der Sredne-Sagorski-Gasse
habe es in der Nacht vom zehnten zum elften Mai einen Brand gegeben, dabei sei der berühmte Krimiautor Viktor Godunow umgekommen.
Die Miliz erklärte, Godunows Tod sei ein Unfall gewesen. In der Wohnung war eine Elektroleitung defekt.
Rakitin sah kurz zu seiner Frau hinüber und legte rasch die Zeitung weg.
In Scheremetjewo holte sie ein alter Freund und Nachbar, Ilja Berstein, mit seinem alten Lada ab.
»Ich habe Nikita sehr lange nicht gesehen«, sagte er, »aber eines Nachts, kurz nach den Maifeiertagen, habe ich über mir seltsame
Geräusche gehört. Als ob jemand Möbel rückte. Und Schritte. Dann war alles still. Nach etwa zwanzig Minuten waren da wieder
Schritte, aber andere. Offenbar mehrere Personen. Damals habe ich nicht weiter darauf geachtet, aber jetzt kommt mir das verdächtig
vor. Die Miliz hat sich die Wohnung gar nicht angesehen und auch die Nachbarn nicht befragt. Wie es aussieht, glauben alle
an einen Unfall. Sie forschen nicht einmal nach, warum er eigentlich aus seiner Wohnung abgehauen ist.«
»Abgehauen?« fragte Olga.
»Genau.« Der Nachbar nickte. »So wie ich Nikita kenne, und ich kenne ihn seit seiner Geburt, würde er niemals aus freien Stücken
und bei klarem Verstand aus seinem eigenen Zuhause in eine fremde Höhle ziehen. Er braucht seinen Komfort, seine gewohnte
Umgebung, besonders jetzt, wo er so viel schreibt. Und seinen Computer, ohne den kann er doch neuerdings gar nicht mehr leben.«
Rakitin bemerkte dankbar, daß Ilja von seinem Sohn in der Gegenwart sprach.
In der Wohnung herrschte relative Ordnung. Keinerlei Spuren eines Einbruchs, einer Durchsuchung oder eines Kampfes, jedenfalls
nicht auf den ersten Blick. Rakitin warf seinen Koffer ab und rief gleich die Staatsanwaltschaft an. Dort teilte man ihm freundlich
mit, der Leichnam seines Sohnes befinde sich im Leichenschauhaus des zweiundzwanzigsten Krankenhauses, und diktierte ihm die
Adresse.
Ilja erbot sich, sie hinzufahren. Ohne sich erst umzuziehen und einen Tee zu trinken, machten sie sich sofort auf den Weg.
Eine Dreiviertelstunde später erfuhren sie, daß der Leichnam bereits eingeäschert sei. Sie hatten keine Kraft, sich mit der
kaltblütigen Angestellten des Leichenschauhauses anzulegen, und es hätte auch
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