Für Nikita
irgendwie säuerlich, ungesund; ein Greisengeruch.
Niemand war von ihm angetan, am wenigsten er selbst. Daß dieser stille, schüchterne Mann im Gerichtssaal flammende, überzeugende
Reden hielt, war einfach unvorstellbar.
Vermutlich hätte Viktjuk bis ans Ende seiner Tage in der maroden Kanzlei vor sich hin vegetiert, bei miserablem Gehalt und
dünnem Tee mit Lebkuchen. Aber es kam anders.
Neben der Kanzlei lag ein herrenloser, heruntergekommener Raum, der der Wohnungsverwaltung gehörte und Rote Ecke oder Leninzimmer
genannt wurde.
Unter staubigen Porträts von Staats- und Parteifunktionären und Plakaten mit Brandschutz- und anderen Sicherheitsvorschriften
fanden Mieterversammlungen statt, nachts saßen der Klempner und der Elektriker hier bei einer Flasche Wodka.
Eines Tages im heißen, schwülen Sommer 1987 vernahm der Anwalt, als er am Abend seine Kanzlei verließ, hinter der Tür leises,
melodisches Summen und schaute neugierig in den Raum.
Auf dem zerkratzten Linoleum saßen etwa zehn Personen im Kreis, hauptsächlich ältere, häßliche Frauen, dochViktjuks erfahrener Blick bemerkte sogleich auch ein paar junge und ziemlich hübsche. Statt Kleidung trugen sie weiße Laken.
In der Mitte des Kreises thronte ein schlitzäugiges, plattgesichtiges Geschöpf mit kahlrasiertem Schädel.
»Und jetzt ganz langsam die Arme heben«, sagte das Geschöpf mit hoher, brüchiger Stimme, »die Augen schließen und wiederholen:
Der große Dsan ruft mich ins Reich der ewigen Wahrheit. Mein Begleiter ins Reich der Wahrheit, mein Licht und meine Freude
ist der Guru …«
»Mein Licht und meine Freude ist der Guru«, echoten alle zehn Personen.
»Die Arme runter, einatmen, jetzt nicht mehr atmen. Keiner atmet«, kommandierte der plattgesichtige Guru.
Viktjuk bemerkte erstaunt, daß tatsächlich niemand atmete. Er zählte im stillen. Zehn Sekunden, zwanzig, eine Minute …
»Ausatmen!« kiekste der Asiat unvermittelt, und Viktjuk zuckte überrascht zusammen, als er bemerkte, daß auch er selbst auf
Kommando die Luft angehalten hatte. »Schnell, alle hinlegen!« befahl der Asiat, und Viktjuk spürte plötzlich, daß ihm die
Beine einknickten. Er hätte sich rasend gern auf das schmutzige Linoleum gelegt, stehen zu bleiben kostete ihn einige Anstrengung.
Die Neugier gewann die Oberhand. Durch den Türspalt sah er sich den Asiaten genauer an. Nichts Besonderes. Eine abstoßende
Visage.
Der Asiat stand auf und erwies sich als ziemlich klein und krummbeinig. Langsam schritt er den Kreis ab. Alle zehn Personen
lagen mit geschlossenen Augen da. »Das Licht und die Freude« ging zu einer der jungen Frauen, kniete sich hin und glitt mit
den Händen über ihren Körper, über ihre kräftige hohe Brust. In der staubigen Stille ertönte deutlich Stöhnen und zärtliches
Flüstern: »Ich liebe den Guru. Nimm mich, Guru!«
So ein Schweinehund, dachte Viktjuk spöttisch, wie macht er das bloß?
»Wir öffnen die kosmischen Chakren«, kommentierte der Asiat in heiserem Falsett seine ungehörigen Manipulationen. Er war so
damit beschäftigt, die junge »Schwester« zu begrapschen, daß er den matten, neidischen Blick, der ihn vom Türspalt aus durchbohrte,
nicht gleich bemerkte. Als er ihn wahrnahm, runzelte er nur leicht die Stirn und wandte sich sofort ab.
Du Hundesohn, weißt du eigentlich, daß es dafür einen Paragraphen gibt? fragte der Anwalt ihn in Gedanken. Sexuelle Nötigung
…
Doch nach kurzem Überlegen war ihm klar, daß er sich etwas vormachte. Der Asiat verstieß gegen keinen Paragraphen. Die jungen
Frauen waren volljährig und besuchten den Kurs des Guru aus freien Stücken. »Nein«, murmelte Viktjuk verwirrt, »irgendeinen
Paragraphen gibt es dafür. Unerlaubte Heilpraktiken, Betrug. So was ist doch nicht normal …«
Seine Verwirrung war durchaus verständlich. In diesem Raum geschah etwas Unmögliches und vollkommen Gesetzwidriges, und zwar
ganz offen, die Tür war nicht einmal abgeschlossen. Aber formaljuristisch gab es dagegen keine Handhabe.
Viktjuk war ein ausgesprochener Materialist. Er glaubte nicht an jenseitige Kräfte oder Bioströme, nicht einmal an die gute
alte Hypnose. Als gebildeter und neugieriger Mensch hatte er einiges über indische Yogi, tibetische Lamas und den Voodoo-Kult
auf Haiti gelesen.
Die Voodoo-Anhänger glaubten nicht nur an die physische Auferstehung von Toten, sie praktizierten sie im Alltag, nutzten sie
sogar zu wirtschaftlichen
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